„Bergische Transfergeschichten“: Die Zeit ist Reif – Kinderrechte gehören ins Grundgesetz
Wo beginnt Kinderschutz überhaupt? „Kinder haben Eigenrechte“, sagt Gertrud Oelerich direkt zu Beginn, „und Kinderschutz beginnt dort, wo es um ihre Rechte und um ein gutes Aufwachsen geht.“ Dieses gute Aufwachsen müsse frühzeitig sichergestellt werden, das heißt, nicht erst mit dem Beginn der Probleme, wenn Eltern aus verschiedenen Gründen – seien es Versorgungsengpässe, psychische Erkrankungen, Suchtprobleme oder ökonomische Armut – nicht mehr in der Lage seien, ein gutes Aufwachsen zu gewährleisten.
Dieses Aufwachsen definiert Oelerich nicht nach dem Prinzip 1., 2., 3. – vielmehr müsse man individuelle Möglichkeiten, die in den Kindern schlummern, herausstellen und ihre Entwicklung in einer produktiven, sich die Welt erschließenden Art und Weise fördern. „Da gehört natürlich ganz grundlegend neben liebevollen, anerkennenden Beziehungen auch eine gesicherte ökonomische Existenz der Familie dazu.“ Heute lebe in Deutschland jedes fünfte Kind in Armut, sagt Oelerich und das bedeute begrenzte Möglichkeiten in vielerlei Hinsicht. „Wenn Eltern in der Lage sind, Kindern viel vorzulesen, viel mit ihnen zu unternehmen, ihnen viel Förderung anzubieten, und Zeit haben, dann können sich Kinder ganz anders entwickeln, als wenn ich das alles nicht habe oder kann, aus welchen Gründen auch immer.“ Gutes Aufwachsen meint in diesem Sinn, so fasst Oelerich zusammen, liebevolle, anerkennende soziale Beziehungen und vielfältige förderliche Unterstützung auf der Basis gesicherter ökonomischer Verhältnisse.
Die Kinderhilfsorganisation UNICEF forderte kürzlich von der Regierung, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, denn „Kinderschutz sei systemrelevant“. Nun kann man fragen, warum das nicht schon längst passiert ist? „Das ist eine gute und schwierige Frage. Man muss sich überlegen, inwiefern Kinderrechte aktuell in Deutschland nicht gesichert sind. Ich würde schon sagen, unser Rechtssystem schützt auch die Rechte von Kindern“, erklärt sie, allerdings hätte die ausdrückliche Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz auch eine Signalwirkung. „Das Problem ist“, fährt Oelerich fort, „dass die Machtverhältnisse von Kindern und Erwachsenen so verteilt sind, dass die Rechte, die Kinder eigentlich haben, nicht immer auch umgesetzt werden. Mit einer Aufnahme ins Grundgesetz generiert man eine ganz andere Wahrnehmung. Es bekommt ein ganz anderes Gewicht.“
Sind Kinder wirklich „unmündig“?
Den Schutz aller Bürger*innen zu gewährleisten, vor allem der unmündigen, ist Aufgabe des Staates. Oelerich fragt sich allerdings, ob der Begriff der Unmündigkeit bei Kindern eigentlich greift. „Wenn man den rechtlichen Begriff oder den Kant‘schen Begriff nimmt – die Unfähigkeit, sich seines eigenen Verstandes ohne Hilfe anderer zu bedienen –, dann ja. Ein dreijähriges Kind kann philosophische Gespräche führen, aber nicht so, wie das unter Erwachsenen stattfinden könnte. Aber ich finde, deswegen sind sie nicht in dem Sinne unmündig, als dass sie nichts über ihr Leben sagen können.“
Es gilt aber, genau hinzuhören und sie ernst zu nehmen. Der Staat habe zwar bereits gute, rechtliche Schutzmechanismen und auch durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz gebe es an verschiedenen Stellen eine gute rechtliche Struktur, aber die Zahl von 50.000 Kindern in Deutschland, die im Jahr 2019 in Obhut genommen wurden, spreche auch eine andere Sprache. „Das sind alles Fälle, wo Kinder und Jugendliche in sie gefährdenden Situationen aufwachsen und von Seiten der Jugendhilfe geschützt werden mussten!“ Vor allem strukturelle Fragen seien es, bei denen das Kinder- und Jugendhilfegesetz absichern kann. Auch Reformen, wie gerade im Sozialgesetzbuch Kinder- und Jugendhilfe (SGB 8), unterstützen Kinder in ihren Rechten. Ganz aktuell hat das Bundeskabinett am 2. Dezember des vergangenen Jahres den Entwurf für eine Reform der Kinder- und Jugendhilfe auf den Weg gebracht. So werden beispielsweise die Aufsichtspflichten für Kinder, die in Heimen oder Pflegefamilien leben, verstärkt, der Ausbau von Ressourcen gefordert und kontinuierlich verbessert.
Aber es gibt noch viele Probleme, weiß die Wissenschaftlerin, beispielsweise dort, wo in der Vormundschaft ein*e Sachbearbeiter*in bis zu 50 Fälle betreuen muss. Auf diese Zahl wurde die Zuständigkeit in der Vormundschaft vor wenigen Jahren reduziert. Das war ein deutlicher Schritt in die richtige Richtung, aber als Vormund*in 50 junge Menschen im Blick behalten zu müssen, für sie grundlegend verantwortlich zu sein, ist noch immer viel zu viel, sagt die Jugendhilfeexpertin. Oder im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD): Auch hier hat sich schon viel getan und zugleich sind die Fallzahlen pro Mitarbeitenden häufig immer noch viel zu hoch, und zudem werden hier händeringend Mitarbeiter*innen gesucht. „Andererseits gibt es wenige Bereiche in der Kinder- und Jugendhilfe, die in den letzten Jahren so ausgebaut wurden wie der ASD“, erklärt sie. Ebenso das Thema der sexuellen Gewalt, bildgewaltig in den Medien verbreitet, bedarf des ganz genauen Hinsehens, denn manches sei auch von den Jugendämtern nicht leicht zu erkennen. „Da braucht es eine Aufmerksamkeit auf ganz vielen verschiedenen Ebenen. Wie werden Kinder wahrgenommen? Wie werden sie ernst genommen? Wie werden ihre Rechte wahrgenommen? Das ist nicht nur eine Frage der Stärkung der Kinder- und Jugendhilfe, das braucht eine breite, gesellschaftliche Stärkung.“
„Homeschooling“
Die Förderung und der Schutz von Kindern und Jugendlichen reicht aber weit über die Themen Gewalt oder Vernachlässigung der jungen Menschen hinaus. Hier geht es unter anderem auch um das Thema Gleichberechtigung in der Bildung. Die Umstellung auf digitale Lernmedien im sogenannten Homeschooling bringt so manche Herausforderung mit sich: „Jugendhilfe/Schule ist einer meiner Arbeitsschwerpunkte“, erläutert Oelerich, und die Digitalisierung beträfe natürlich auch diesen Bereich. „Soziale Ungleichheit ist aufgrund von Corona ja nicht weg, vielmehr bedeutet Aufwachsen in sozialer Ungleichheit in Coronazeiten, dass die Probleme von Corona zu den alltäglichen Herausforderungen noch hinzukommen.“ Den Begriff Homeschooling verwendet sie nicht gern, „denn was im ersten Lockdown zu Hause passiert ist, das war häufig nicht Schooling, sondern es war der Versuch, das, was in Schule nicht stattfinden konnte, irgendwie zu ersetzen oder irgendwie noch abzufedern.“
Für alle Eltern, auch jene mit einem guten Bildungsabschluss gelte, „einem Erstklässler schreiben beizubringen, ist eine hochkomplexe Angelegenheit. Das ist nicht einfach nur das Malen von Buchstaben. Wie soll das jemand gut machen, der mit zwei Kindern in beengten Wohnverhältnissen lebt, selber Homeoffice macht und dann auch noch finanzielle Sorgen hat? Das kann trotz aller Stärke, die die Familien auch gezeigt haben, schnell zu einer Mischung aus Existenzsorgen, beengten Lebensverhältnissen, wenig Rückzugsmöglichkeiten, Dauerbelastung und Überforderung in der Krise führen.“
Die Pandemie und ihre Folgen in der Kinder- und Jugendhilfe
Covid-19 hat auch in der Kinder- und Jugendhilfe zu Veränderungen geführt. Im stationären Bereich müssen die Einrichtungen Ähnliches bewältigen, wie größere Familien, berichtet Oelerich. Kontaktbeschränkungen, Isolation nach Ansteckung usw. „Ganz anders war es im ambulanten Bereich. Da sind zunächst Beratungsstellen geschlossen und zugehende Unterstützungsmöglichkeiten wesentlich reduziert worden.“ Kontaktbeschränkungen für Sozialarbeiter*innen in Familien erschwerten die Bedingungen der Besuche. Zu Anfang sind diese häufig nach außen verlegt worden. Treffen an offenen Plätzen und Spaziergänge ermöglichten so trotz Corona-Beschränkungen Gespräche von Angesicht zu Angesicht. Von schulischer Seite gab es zunächst deutlich weniger Meldungen über Kindeswohlgefährdungen als zuvor, weil die Lehrerinnen und Lehrer durch den Distanzunterricht die Kinder nicht mehr direkt getroffen haben, daher konnten in dieser Zeit auch weniger Gefährdungen erkannt und dem Jugendamt gemeldet werden. Und auch diejenigen, die sich selber an die Jugendhilfe wenden wollten, auch für die war der Zugang ja erschwert.
Jugendhilfetag Wuppertal
Im letzten Jahr – noch vor Corona – fand ein weiterer Jugendhilfetag, bereits der fünfte, in Wuppertal statt, der alle zwei Jahre als ein Kooperationsprojekt zwischen der Jugendhilfe in Wuppertal und der Bergischen Universität veranstaltet und von Oelerich von Seiten der Universität (mit-)organisiert wird. Mit über 750 Teilnehmer*innen beschäftigte man sich in verschiedenen Gruppen mit dem Thema „Strukturen der Ermöglichung?!“ Dazu Oelerich: „Klingt ein wenig sperrig und als zunächst wenig greifbar. Aber schaut man genauer hin, dann wird es spannend: Welche Strukturen der Ermöglichung für ein gutes Aufwachsen und eine gute Jugendhilfe braucht es eigentlich?“ Durchdekliniert über die verschiedenen Lebensbereiche der Kinder wurden u. a. digitale Zusammenhänge, geschlechtliche Vielfalt und Arbeitsbedingungen in der Kinder- und Jugendhilfe selbst diskutiert. Sehr erfreut war die Mit-Organisatorin auch über die unglaubliche Vielfalt der Wuppertaler Kinder- und Jugendhilfe, die bei den Jugendhilfetagen in Wuppertal immer wieder deutlich wird.
Prof. Oelerich hat selber wenige Jahre in verantwortungsvoller Position beim Jugendamt der Stadt Wuppertal gearbeitet und sagt: „Ich habe eine große Achtung und Anerkennung vor dem, was die Leute in der Jugendhilfe leisten. Ich finde, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe in Wuppertal insgesamt eine sehr gute Arbeit machen. Aber es ist auf allen Ebenen keine einfache Arbeit.“ Eine weitere Verbesserung der Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe sieht sie in einer guten Vernetzung von Bildungseinrichtungen, Schulen, Kindertagesstätten und der Jugendhilfe untereinander.
Als Wissenschaftlerin hat sie den Blick auf die Kinder- und Jugendhilfe von außen. Sie stellt aber immer wieder fest, dass Jugendhilfeinstitutionen an dem Austausch mit der Wissenschaft deutliches Interesse haben, auch ihren wissenschaftlichen Rat wünschen, und so der Austausch und Transfer auch zu Verbesserungen und Änderungen bei der Kinder- und Jugendhilfe beitragen kann. Und zugleich, betont sie, ist der Austausch mit der Praxis auch für uns Wissenschaftler*innen in Forschung und Lehre ausgesprochen inspirierend und produktiv.
Uwe Blass
Die komplette Transfergeschichte lesen Sie hier.
Gertrud Oelerich studierte Diplompädagogik an der Universität Bielefeld und promovierte an der Universität Heidelberg. Sie war einige Jahre für das Jugendamt der Stadt Wuppertal tätig, arbeitet seit 2011 als außerplanmäßige Professorin für Sozialpädagogik/Kinder- und Jugendhilfe an der Bergischen Universität und ist seit Mai 2020 Dekanin der Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften.