„Bergische Transfergeschichten“: Mehrsprachigkeit im frühen Kindesalter
Wenn sich ein bilingual deutsch-englisch erzogenes Kleinkind mit den Worten „Ich geh‘ mal zum playground!“ verabschiedet, sollte dies bei Eltern und Erzieher*innen nicht sofort die Alarmglocken auslösen. „Wenn die Kinder fünf Jahre alt sind, dann wird man sehen, dass sie kompetente, mehrsprachige Personen sind“, weiß Natascha Müller. Gemischtsprachliche Äußerungen, das sogenannte Code-Switching, gelten in der Sprachwissenschaft als ein besonderer Sprachstil, über den manche sagen, er verwirre die Kinder in ihrer sprachlichen Entwicklung. „In Studien haben wir Kinder im Alter von anderthalb bis fünf Jahre alle 14 Tage per Video aufgenommen und festgestellt, dass diese Mischungen, die uns als Erwachsene und auch als Linguist*innen sehr ins Auge fallen, nur zu ca. fünf Prozent bei mehrsprachigen Kindern vorkommen.“ Als Vergleich führt sie an, dass wir uns selbst in unserer eigenen Muttersprache zu fünf Prozent versprechen, daher ist Müller der Meinung, dass diese angeblichen Verwirrungen eigentlich gar nicht existierten. Bei mehrsprachigen Kindern falle es nur besonders auf.
In den Untersuchungen, die Müller durchgeführt hat, habe sie im Gegenteil festgestellt, dass zum Beispiel deutsch-spanische Kinder, die von einer bilingualen Erwachsenen, die ihre Sprache ständig gewechselt habe, angesprochen wurden, immer einsprachig geantwortet hätten. Wenn Kinder systematisch gemischtsprachlich angesprochen würden, dann reagierten sie nicht verwirrt, sondern sie wählten eine Sprache und interagierten mit dem Erwachsenen. „Sie mischen nicht zurück. Daher vermute ich auch eine ganz klare Sprachtrennung, die schon im Kindesalter vorhanden und nachweisbar ist. Man kann sagen, dass die bilingualen oder auch trilingualen Kinder rigider in der Sprachwahl sind, als wir Erwachsene“, schlussfolgert die Forscherin.
Gerade bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern kommt es vor, dass sie ein Wort, welches sie in der einen Sprache nicht kennen, in der anderen Sprache ausdrücken. Kritiker*innen meinen, dass dabei die Grammatik auf der Strecke bleibe. „Auch das haben wir untersucht“, sagt Müller. „Es ist eher so, dass die bilingualen Kinder nicht immer die Wörter beider Sprachen gleich schnell aktivieren können. Aber sie kennen das Wort. Nun ist Kommunikation schnell, da gehen ganz viele Prozesse im Gehirn ab, und natürlich müssen Kinder das lernen. Es ist manchmal so, dass sie nicht schnell genug auf das Wort in der gerade gewünschten Sprache der Erwachsenen zurückgreifen können.“ Auch die Grammatik bei gemischtsprachlichen Äußerungen untersuchte sie systematisch und stellte fest, dass sie meist automatisch, instinktiv und intuitiv angewandt werde.
Weltweit größte Datensammlung über mehrsprachige Kinder
1997 startete Müller eine auf fünf Jahre angelegte Longitudinalstudie (eine Längsschnittstudie, bei der eine empirische Studie zu mehreren Zeitpunkten durchgeführt wird und die Ergebnisse der einzelnen Untersuchungswellen verglichen werden) mit mittlerweile 48 Kindern, woraus sich die weltweit größte Datensammlung über mehrsprachige Kinder entwickelt hat, die in der Wuppertaler Romanistik verwaltet wird. „Wir haben einzigartige Sprachkombinationen: Wir haben Kinder, die Spanisch-Französisch, Italienisch-Spanisch oder Französisch-Italienisch erwerben“, erklärt die Linguistin. Noch heute pflegt sie den Kontakt zu den ehemaligen Schützlingen und deren Eltern. „In den romanischsprachigen Ländern sind wir alle vier bis sechs Monate zu den Eltern gefahren, die die Aufnahmen für uns durchgeführt haben. Sie haben uns ihre Erfahrungen und Vorfälle geschildert, die Entwicklung ihrer Kinder mitgeteilt und uns die Aufnahmen überlassen, die wir dann an die Bergische Universität gebracht und verschriftet haben.“ Es sei ein sehr persönliches, privates Projekt gewesen, welches von muttersprachlichen Personen ausgewertet wurde und sich bis heute jederzeit wieder aktivieren ließe.
In der Gesellschaft gibt es bis heute existierende Vorurteile gegenüber der frühkindlichen Mehrsprachigkeit. Das liege u. a. daran, erklärt Müller, dass unterschiedliche Sprachen einem gewissen Sozialprestige unterliegen und das sei auch wissenschaftlich belegt. Gegenüber uns nahestehenden Sprachen, die zum Teil auch unserem Bildungssystem zuzurechnen sind, existieren wenig bis keine Vorurteile. Dagegen sind Sprachkombinationen wie z. B. Deutsch-Türkisch, Deutsch-Polnisch oder Deutsch-Russisch eher mit dem Vorurteil behaftet, dass diese Kombinationen im Spracherwerb Probleme bereiten. Besonders in der Schule etablierte Sprachen kennen wir besser und sie suggerieren uns einen Vorteil. Man müsse aber auch bedenken und – das werde auch in der Kognitionsforschung diskutiert – dass man die Sprache situationsbedingt zum Vorteil anwenden könne. „Wenn ein deutsch-türkisches Kind in Türkisch angesprochen wird, antwortet es auch in dieser Sprache. Es besitzt die Möglichkeit, immer eine Sprache deaktivieren zu können. Diese kognitive Kontrolle kann ich dann auch in anderen Bereichen sehr gut umsetzen“, erklärt Müller. „Von daher ist es eigentlich egal, welche Sprache man lernt!“
Wenn der Spracherwerb bei Kindern so viel schneller geht als bei Erwachsenen, stellt sich unweigerlich die Frage, warum man diese Erkenntnisse nicht stärker in den Schulen nutzt. „Eine exzellente Frage“, bestätigt die Forscherin und fährt fort: „Das frage ich mich natürlich auch, ganz besonders vor dem Hintergrund, dass wir ja die Bildungssprachen analysieren.“ Ein Grund dafür, mutmaßt Müller, könnte die Tatsache sein, dass ihre Forschungen mit dem Beginn der Schulpflicht enden: „Wir untersuchen den natürlichen Spracherwerb und den Lautspracherwerb.“ Tatsache sei, dass der Fremdsprachenerwerb von Bildungssprachen in der Schule lange nicht so erfolgreich sei, wie der Erwerb von Mehrsprachigkeit im frühen Kindesalter. Der Fremdsprachenerwerb in der Schule könnte von den Erkenntnissen aus dem Erstspracherwerb ihrer Forschung profitieren. Hierfür müssten die Lernmaterialien angepasst werden. In den aktuellen Lernmaterialien der Schüler*innen finden sich linguistische Regeln, welche aus Sicht der Forschung den Fremdsprachenerwerb eher erschweren.
Ein weiterer lohnenswerter Weg wäre für Natascha Müller der sinnvolle Einsatz von Muttersprachler*innen im Unterricht. „Ich habe mich immer gefragt, warum die Institution Schule dies nicht tut.“ Wir wachsen als EU zusammen, es existiert eine ständig steigende Mobilität, somit wäre es folgerichtig, dies auch in die Institutionen einfließen zu lassen. „Kurzum, ich würde mir wünschen, dass ein muttersprachlicher bilingualer Deutsch-Italiener die Kinder im Italienischen, eine deutsch-spanische Person die Kinder im Spanischen und eine deutsch-französische Person die Kinder im Französischen unterrichtet. Dann wäre es natürlich.“ Kinder, die diese Sprachen bereits in die Schule mitbrächten, wären gleichzeitig eine wunderbare Ressource bei der Unterrichtsvermittlung.
Uwe Blass
Die komplette Transfergeschichte lesen Sie hier.
Prof. Dr. Natascha Müller leitet seit 2004 den Lehrstuhl für Romanische Sprachwissenschaft in der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften der Bergischen Universität.