„Bergische Transfergeschichten“: Wem gehört unser Leben?
„Den eigenen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der anderen muss man leben“, schreibt Mascha Kaléko in ihrem 1945 verfassten Gedicht Memento und formuliert darin in wenigen Worten, dass der Tod nicht nur Auswirkungen auf den Einzelnen, sondern immer auch auf die Anderen hat. In den „Bergischen Transfergeschichten“ blickt Dr. Heike Baranzke, Lehrbeauftragte für Theologische Ethik der katholischen Theologie an der Bergischen Universität Wuppertal, auf das aktuelle Stück „Gott“ von Ferdinand von Schirach und spricht über die kontroverse Debatte zum Thema Sterbehilfe.
Unsere multimediale Gesellschaft gibt uns heute jedwede Möglichkeit der Meinungsäußerung zu nahezu allen Themen. Durch Televotes beeinflussen wir sogar Entscheidungsprozesse. Wir kennen das aus Musikshows, in denen wir mit unserer Wahl Kandidat*innen in die nächste Runde bringen können, oder Gerichtssendungen, wie der Gerichtsshow „Wie würden Sie entscheiden?“, die das ZDF bis 2000 ausstrahlte. In einem ähnlichen Format präsentiert Strafverteidiger und Schriftsteller Ferdinand von Schirach seine Theaterstücke: Am Ende der Vorstellung lässt er das Publikum entscheiden, wie der Fall zu beurteilen ist.
Sein aktuelles Stück „Gott“, das derzeit auf bundesdeutschen Bühnen und in der Mediathek der ARD zu sehen ist, behandelt das Thema Sterbehilfe. Darin geht es um den fiktiven Fall des Herrn Gärtner, der sterben will. Er ist 78 Jahre alt und psychisch wie physisch gesund. Vor drei Jahren starb seine Frau, und er will nicht mehr leben. Beim Bundesinstitut für Arzneimittel beantragte er eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital, die ihm verweigert wurde. Im Stück zieht Herr Gärtner mit seinem Rechtsanwalt vor den Deutschen Ethikrat. Die Diskussion entwickelt sich anhand der Eingangsfrage: Darf ein gesunder Mensch sterben? Nach einer Stunde und 37 Minuten kann der Zuschauer per Anruf entscheiden.
Nichts für Denkfaule
Die Theologin und Ethikerin Dr. Heike Baranzke hält diese Form der Auseinandersetzung für viel zu kurz gegriffen und sagt: „Über solche Fragen nachzudenken und zu diskutieren, das ist nichts für Denkfaule.“ Die versierte Wissenschaftlerin mit einem Lehrauftrag für Theologische Ethik der katholischen Theologie an der Bergischen Universität findet den Ansatz des Schirach-Stückes durchaus interessant, welches der Autor nach der Abschaffung des Sterbehilfeparagraphen 217 im Strafgesetzbuch durch das Verfassungsgericht in diesem Jahr sogar auf einen Suizid eines gesunden Menschen zuspitzt.
Die Grundrechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie auf den Schutz des Lebens sind beide in Artikel 2 Grundgesetz garantiert. Daraus folgt: „Niemand hat eine Pflicht zu leben, es gibt keinen Zwang zu leben, das würde ich auch voll und ganz unterschreiben, aber man kann dann nicht nur von einem Akteur aus die ganze Sache thematisieren, sondern man muss dann die verschiedenen Rollen der verschiedenen Akteure betrachten“, erklärt Baranzke, „nicht nur die Rolle des Suizidwilligen, sondern auch die Rolle des Gesetzgebers, der auch das Gemeinwohl im Blick haben muss.“
Es gibt keine klaren Ja-/Nein-Entscheidungen
Eine gängige Praxis im Verlauf von Interviews ist eine durch Ja/Nein-Entscheidungen erzwungene Eindeutigkeit, die Baranzke bei diesem Thema für unangebracht hält. Sie verweist dabei auf den Universalgelehrten Aristoteles, der schon vor über 2000 Jahren davor warnte, von der Ethik die gleiche Präzision und Eindeutigkeit zu erwarten, wie von den logischen Wissenschaften. „Bei ethischen Fragen – und das merken wir auch in der Coronadebatte – wollen alle klare Antworten haben, klare Ja-Nein-Entscheidungen. Aber jeder möchte auch in seiner spezifischen Situation berücksichtigt sein. Das ist schon ein Widerspruch in sich.“ Es gehe hier neben dem Grundrecht auf Selbstbestimmung auch um das hohe Gut des menschlichen Lebens, erklärt sie, welches ein ganz grundlegendes Rechtsgut sei, da man ohne die Voraussetzung des Lebens die anderen Grundrechte auch nicht in Anspruch nehmen könne. Dabei gehe es nicht einfach um ein logisches, sondern um ein psychologisches Problem, das daher nie mit letzter Sicherheit zu beantworten sei.
Gegen einsame Selbsttötungsentscheidungen spreche auch eine immerwährende Verantwortung, die ein Mensch seinem Umfeld gegenüber habe. „Für mich als Ethikerin ist die praktische Vernunft wesentlich, die uns herausfordert, uns nicht nur unseren Bedürfnissen, Emotionen und Affekten ungesteuert hinzugeben, sondern Verantwortung für die mit uns in sozialer Beziehung stehenden Menschen zu übernehmen.“ Es werde in der Sterbediskussion immer nur die negative Freiheit behandelt, es gebe aber auch noch den positiven Freiheitsbegriff, der Verantwortung sowohl für soziale Nahbeziehungen als auch für die Gesellschaft miteinschließe. Denn von Schirach lässt seinen Suizidwilligen mit der Forderung auftreten, dass Gesetze geändert werden, die ein Recht auf Hilfe bei der Selbsttötung festschreiben. Er will also nicht nur für sich selbst einen Weg der Lebensbeendigung suchen, sondern gesetzliche Strukturen schaffen, mit denen der Staat rechtlich in die Pflicht genommen werden kann, Institutionen für Suizidassistenz zu schaffen. Das ist ein gewaltiger gesellschaftsverändernder Anspruch, der über die Bitte der Linderung einer privaten Notlage weit hinausgeht.
In welcher Gesellschaft wollen wir leben?
Die Auseinandersetzung mit der Selbstverantwortung eines Sterbewilligen hat auch immer mit der Frage zu tun, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Daher fragt Baranzke ganz konkret: „Geht es um die sofortige, uneingeschränkte Unterstützung eines Sterbevorhabens oder geht es um Behutsamkeit und Achtsamkeit und die individuelle Prüfung dieses hohen Gutes, das Leben heißt?“
Es mache einen großen Unterschied, ob jemand sterbenskrank und die Grenzen der palliativmedizinischen Behandlung erreicht habe, oder ob jemand einfach nur Liebeskummer habe oder depressiv sei. Daher sei auch die Stärkung des Bereichs der Suizidprävention enorm wichtig. In jedem Falle sei bei der Erfüllung eines Sterbewillens wichtig, betont die Theologin, „dass die Tatherrschaft soweit wie möglich bei dem Suizidwilligen verbleiben sollte. Dass er selber die Verantwortung übernimmt.“ Denn Tötung auf Verlangen, also durch die Hand eines Anderen, ist nach wie vor verboten.
Du sollst nicht töten
Im fünften Gebot steht: Du sollst nicht töten. Mit dem Gebot lässt sich kein Recht sprechen. Es definiert auch keinen Rechtsfall. Aber es hat einen grundlegenden Wert als eine Art Grundgesetz: Der Mensch hat ein Recht auf Leben. Das fünfte Gebot ist somit dem Schutz des menschlichen Lebens verschrieben. Es steht in einem Spannungsfeld, dem sich jede Gesellschaft aussetzen muss. Wann ist eine Tötung erlaubt und wann nicht? Damit ist es auch heute noch kommentarbedürftig. Aber ist mit diesem Gebot auch gleichzeitig die Selbsttötung verboten? „Es ist ein offenes Geheimnis, dass diese starke Verurteilung des Suizids erst durch Augustinus (Augustinus von Hippo, Kirchenlehrer der Spätantike, Anm. d. Red.) in die Theologiegeschichte gekommen ist. „Aber historische Verweise reichen als Rechtfertigung in der Diskussion nicht aus“, sagt Baranzke.
„Wir können nicht einfach unseren zeitgeschichtlichen Horizont, unsere gesellschaftlichen Maßstäbe auf vormoderne Zeiten anwenden. Im biblischen Horizont haben wir noch einen gottesrechtlichen Rahmen und in der Neuzeit trennen wir ja zwischen religiösen und säkularen Begründungen und da nochmal zwischen moralischen und rechtlichen Begründungen. All diese Ausdifferenzierungen sind da ja gar nicht mitgedacht“, konstatiert sie und daher müsse man sich vor anachronistischen Schnellschüssen hüten. Dieses Gebot sei in eine bedrohliche und weniger gesicherte soziale Wirklichkeit hineingesprochen worden und diente letztlich auch dem Schutz der Menschen vor gemeinen Verbrechen. „Denn für einen Täter oder einen Mörder gilt: Fühl dich nicht sicher, wenn du meinst, dass dich keiner beobachtet, Gott sieht alles.“ Das Tötungsverbot bezeuge vor allem die hohe Wertschätzung des Lebens in einer Zeit, die noch keine Menschenrechte gekannt habe, betont Baranzke.
„Eine gesellschaftlich tragfähige Beurteilung ist extrem anstrengend“
Wem gehört also unser Leben? Gehört es einem Gott? Gehört es dem Staat? Gehört es der Gesellschaft, der Familie, den Freund*innen? Oder gehört es nur uns selbst.
Heike Baranzke würde bei der Abstimmung in Ferdinand von Schirachs Stück „Gott“ sowohl als Theologin als auch als Ethikerin eindeutig mit „Nein“ stimmen: „Weil der neuralgische Punkt in diesem fiktiven Fall der ist, dass Herr Gärtner auf der einen Seite die Darlegung seiner Gründe verweigert und auf der anderen Seite es ihm nicht genügt, für sich selbst einen Ausweg aus dem Leben zu suchen. Wenn er von der Gesellschaft fordert, dass der Gesetzgeber diese Strukturen einrichten soll, dann ist er gegenüber der Gemeinschaft auch begründungspflichtig.“ Jede*r hat ein Recht, ihre oder seine Meinung zu äußern, nur sollten genügend Hintergrundinformationen vorliegen, um diese Meinung auch vertreten zu können.
„Wir sind alle als moralische Subjekte auch gefordert zu einer Urteilsbildung, die aber dann entsprechend anstrengend ist, weil sie keine schnellen Ja/Nein-Antworten aus Mitleid mit einem Einzelnen zulässt. Denn jedes moralische Urteil über einen Einzelfall hat ja die Kehrseite, sich fragen lassen zu müssen, ob es auch verallgemeinerbar ist, ob daraus also ein Gesetz gemacht werden könnte, das nun für alle in der Gesellschaft gelten soll und wie denn dann der Lebensschutz garantiert werden kann für jene, die vielleicht behebbare depressive Verstimmungen, nicht aber einen belastbaren Sterbewillen äußern. Verantwortung habe ich daher nicht erst beim Reichen des Schierlingsbechers, sondern schon, wenn ich ein ethisches Urteil fälle. Diese Dimension ist vielen Diskutanten nicht ganz klar. Von denen, die mitbestimmen wollen, fordere ich dann mehr ein als spontanes Mitleid, denn eine gesellschaftlich tragfähige Beurteilung ist extrem anstrengend.“
Uwe Blass
DIe komplette Transfergeschichte lesen Sie hier.
Dr. Heike Baranzke ist Lehrbeauftragte für Theologische Ethik der katholischen Theologie in der Fakultät für geistes- und Kulturwissenschaften an der Bergischen Universität.