Das Potenzial der Mehrsprachigkeit – Eine Bergische Transfergeschichte mit Prof. Dr. Jasmin Decristan
„Reziprokes Lehren ist eine Lehr-Lernmethode, bei der Schüler*innen in Kleingruppen miteinander an Deutsch-Lesetexten arbeiten und sich dabei unter strukturierten Vorgaben gegenseitig unterstützen“, erklärt sie. „Das machen sie, indem sie abschnittsweise in verschiedenen Rollen miteinander lesen aber auch gemeinsam sogenannte Lesestrategien anwenden.“ Die Kinder lernen, sich einen Text zu erschließen, indem sie Fragen an den Text stellen und ihn zusammenfassen. „Diese Strategien kommen im Regelunterricht oftmals zu kurz“, erklärt Decristan, „aber sie sind für das Lesen sehr wichtig. Und wenn die Kinder diese Strategien gut anwenden können, dann können sie sie auch in der weiterführenden Schule in ganz verschiedenen Fächern nutzen.“ Reziprok bedeute in diesem Zusammenhang das wechselseitige Arbeiten, die gemeinsame Anwendung von Strategien oder das korrigierende Feedback der Lernpartner*innen. „Wir kombinieren das Reziproke Lehren innovativ mit dem Baustein der Mehrsprachigkeitssensibilität“, fährt sie fort, denn „wenn wir in NRW in die Schulklassen kommen, sehen wir, die Kinder bringen ganz viele verschiedene Sprachen mit. Dort herrscht eine Sprachenvielfalt vor. Und das ist nicht auf einen Brennpunkt beschränkt. Das ist der Regelfall!“
Jede Sprache kann eine Ressource sein
Diese Sprachenvielfalt will Decristan nutzen, egal ob es sich um Englisch, Türkisch, Farsi oder Russisch handelt. „Wir verfolgen dabei den Ansatz: Sprachen können sich auch gegenseitig positiv beeinflussen“, erklärt die Bildungsforscherin. „Wenn ich in der einen Sprache etwas kann, kann ich mir möglicherweise auch eine Brücke für die andere Sprache bauen. Auch wir kennen das, dass zwischen Sprachen geswitcht und diese gemixt werden: Wenn man im Bus sitzt und jemand telefoniert in einer anderen Sprache, dann hört man auch immer wieder Wörter aus dem Deutschen dazwischen. Doch lässt sich eine positive Wechselwirkung auch empirisch nachweisen? Dieser Frage wollen wir nachgehen und sagen: Es ist nicht wichtig, ob es jetzt Französisch oder Englisch ist, sondern jede Sprache kann eine Ressource darstellen.“
Dazu müssen aber erst einmal die vielen Sprachen der Kinder in einer Klasse sichtbar gemacht werden. Dies wird im Projekt umgesetzt, indem die Kinder eigene Sprachenporträts erstellen und sich dafür ganz einfache Fragen stellen: „Welche Sprachen spreche ich? Wo im Körper würde ich eine bestimmte Sprache verorten – im Kopf, im Bauch, in den Beinen oder Händen? Und warum?“, erklärt Decristan. Beim Lesen selbst kommen dann Tippkarten zum Einsatz, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt, den jeweiligen Kindern bei der Anwendung der Lesestrategien helfen sollen. „Und für die Kinder, die die Schriftsprache ihrer Herkunftssprache nicht lesen können, haben wir auch noch einen Sprach-Lernstift. Man drückt auf ihn drauf und dann wird der Tipp auf der Tippkarte in der weiteren Sprache vorgelesen.“ Durch Sprachpartner*innen, die es in fast allen Klassen gebe, können sich die Kinder gegenseitig – reziprok – beim Lernen unterstützen. Und genau dieser „Rückgriff auf das gesamte Sprachrepertoire“, sagt Decristan, „könnte das Deutschlesen verbessern. Schülerinnen und Schüler sind sozusagen gegenseitige Ressourcen.“ Der positive Synergieeffekt dabei: Das Sichtbarmachen der Sprachen, das miteinander Lernen und sich gegenseitig helfen – das mache den Kindern Spaß und sie auch stolz.
Was ist guter Unterricht?
Adressaten ihrer Forschung sind auch alle Lehrpersonen, die für einen guten Unterricht sorgen. Aber was ist eigentlich guter Unterricht? Dazu Decristan: „Guter Unterricht muss immer mit unseren gesellschaftlichen, kulturellen Vorstellungen sowie Normen und Werten von Unterricht vereinbar und dort eingebettet sein. Das, was wir hier als guten Unterricht erachten, muss beispielsweise nicht guter Unterricht im asiatischen Raum sein.“ Die Wissenschaftlerin ergänzt, dass, wenn guter Unterricht zusätzlich auch nachweislich wichtige Ziele von Schule erfüllt, wie Lernförderung und Motivation, dann lässt sich von qualitätsvollem Unterricht sprechen. Decristan verweist an dieser Stelle auf empirische Forschung, die nahelegt, dass Unterrichtsqualität nicht an eine spezifische Methode gekoppelt ist. „Die Methoden sind Handwerkszeuge“, erklärt sie, und es gehe primär darum zu fragen, was man mit diesem Werkzeug erreichen wolle, wie man es anwende und im Unterricht nutze, um bei den Schüler*innen beispielsweise vertieftes Nachdenken anzuregen. Dieses Nachdenken werde nicht über reines Üben und Abarbeiten von Aufgabenpaketen erreicht, sondern durch Problemstellungen mit verschiedenen Lösungswegen oder durch das Anknüpfen des Unterrichts an das Vorwissen. Ebenso wichtig sind ein wertschätzender, respektvoller Umgang miteinander sowie eine ausreichende Lernzeit durch Klassenführungstechniken. Diese drei grundlegenden Gestaltungsprinzipien – also kognitive Aktivierung, Wertschätzung und Klassenführung – sind nachweislich lernförderlich und motivierend.
Lehrerprofessionalisierung
Eine angehende Lehrkraft tritt in der Regel nach sechs Jahren Studium und Referendariatszeit den Dienst im Klassenraum an. „Professionalisierung von Lehrkräften ist aber kein Prozess, der mit dem Beginn des Studiums anfängt und am Ende des Studiums abgeschlossen ist“, macht Decristan deutlich, „denn Lernen ist ein lebenslanger Prozess. Auch ich lerne jeden Tag etwas Neues. Der Punkt ist, dass wir die gesellschaftlichen Entwicklungen, den Bedarf nach neuen Maßnahmen und Methoden berücksichtigen müssen – und auch die Forschung entwickelt sich weiter“, erklärt die gebürtige Niedersächsin. Entsprechend gilt es, das Handeln fortlaufend zu professionalisieren. Und das muss keiner alleine bewerkstelligen. „Wir müssen von diesem Einzelkämpfertum wegkommen“, fordert sie, „auch im Kollegium sind doch erfahrene Personen, bei denen man sich Hilfe holen und mit ihnen austauschen kann. Das können sie im Rahmen von gemeinsamer Unterrichtsvorbereitung oder auch durch Materialaustausch tun“, schlägt Decristan vor. „Man kann auch die Kolleg*innen in den eigenen Unterricht einladen und eine zweite Perspektive auf den Unterricht einholen. Vielleicht habe ich etwas nicht mitbekommen? Was kann ich mal Neues ausprobieren? Das setzt natürlich eine gewisse Offenheit voraus“, weiß die versierte Wissenschaftlerin. Der Anspruch auf Professionalisierung der Lehrkräfte werde natürlich auch von den Schulen getragen. Neben Angeboten zu Weiterbildungsmaßnahmen gibt es auch regelmäßig sogenannte Pädagogische Tage an den Schulen, an denen ausgewählte Inhalte im gesamten Kollegium vorgestellt und vertieft werden. Decristan plädiert zudem dafür, auch die Lernenden mit ins Boot zu nehmen. „Warum nicht auch die Schülerinnen und Schüler mitbefragen und deren Meinung einholen? Selbst Grundschulkinder können schon recht differenziert über Unterricht Auskunft geben. Aber auch hier gilt: Verpflichtung ist nicht der Weg, das muss auf Freiwilligenbasis passieren“, rät die Psychologin.
Individuelle Förderung heißt nicht unbedingt Einzelförderung
Zu den Arbeitsschwerpunkten Decristans am Institut für Bildungsforschung gehört auch die „Individuelle Förderung“. Aber was heißt das? Man stelle sich eine Lehrerin oder einen Lehrer in einer 25-köpfigen Grundschulklasse mit zwei verhaltensauffälligen Kindern und weiteren Kindern, die entweder kaum Deutsch sprechen oder Schwierigkeiten im Lesen oder Rechnen haben. Wie kann da eine individuelle Förderung gelingen? Zunächst setzt individuelle Förderung an einer pädagogischen Grundhaltung an, also „dem Grundgedanken, dass die Schülerinnen und Schüler unterschiedlich sind. Jedes Kind hat unterschiedliche Lernwege, Zugänge, Strategien, die es mitbringt. Trotzdem spiegelt sich diese Haltung im unterrichtlichen Handeln so nicht wider.“ Differenzierung, erläutert Decristan, sei nicht der Regelfall. Die Idee, dass die Lehrperson dann jedem Kind individuelle Lernangebote unterbreite, ist ein Setting, das dann oft mit individueller Förderung verbunden wird“, sagt sie, jedoch sei das in einer Klasse mit 25 Kindern, wie Studien zeigen, wenig sinnvoll, denn „die Lehrkräfte sind dann im Wesentlichen mit dem Management der vielen Parallelaufgaben beschäftigt.“ Fruchtbare Dialoge und ein miteinander Lernen seien dann sehr eingeschränkt. Die Psychologin geht da lieber anders vor. „Man sollte gezielt in der Vorbereitung schon überlegen, mit welcher Klasse und welchen Lernenden habe ich es eigentlich zu tun? Wo stehen die und wie kann ich die am besten unterstützen?“ Durch kleinere, vorbereitete Aufgabensettings könne der Lernstand gezielt diagnostiziert werden und diese für den Lernprozess wichtige Information komme von den Schüler*innen im laufenden Unterricht und nicht traditionell als Testergebnis am Ende einer Unterrichtsreihe. Mit dieser Information können Lehrkräfte dann weiterarbeiten und beispielsweise Tempo und Schwierigkeit gezielt anpassen. Auch eine gezielte Zusammenstellung von Kleingruppen, die dann miteinander arbeiten, komme dem Gedanken der individuellen Förderung entgegen.
Sprache ist der Schlüssel für Bildung
Sprache ist der Schlüssel für Bildung. Können Kinder ihre Sprachpotenziale nicht voll entfalten, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie im schulischen und beruflichen Leben benachteiligt sind.
„Für erfolgreiche Bildungsprozesse braucht es immer Personen, die motivieren", sagt der Freiburger Soziologe Albert Scherr. Diese auszubilden, auf die Aufgaben im Schuldienst vorzubereiten und im gesellschaftlichen Rahmen immer weiter zu professionalisieren ist die Aufgabe der Hochschulen. An den sich stetig verändernden Herausforderungen arbeitet Prof. Dr. Jasmin Decristan am Institut für Bildungsforschung an der Bergischen Universität kontinuierlich mit.
UWE BLASS
Die komplette Transfergeschichte lesen Sie hier.
Prof. Dr. Jasmin Decristan studierte Psychologie in Göttingen und promovierte 2008 ebenda. Bis 2016 arbeitete sie am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt a.M., danach als Akademische Rätin an der Goethe-Universität Frankfurt. Seit 2017 leitet sie die Abteilung „Schulische Interventionsforschung bei besonderen pädagogischen Bedürfnissen“ im Institut für Bildungsforschung in der School of Education an Bergische Universität Wuppertal.