Der Papst, die Päpstin und das Thema SchuldFragen an den führenden Papstforscher Agostino Paravicini Bagliani
Kahl: Ist das Papsttum Ihrer Meinung nach in einer digitalen, sich ständig verändernden Welt, eigentlich noch zeitgemäß?
Paravicini Bagliani: Es ist eine gute, interessante Frage, die man für alle Zeiten stellen kann und soll. Ich würde sagen, dass das Papsttum sich stets verändert hat, aber immer innerhalb einer Kontinuität, einer Tradition. Das Papsttum des letzten Jahrhunderts ist sehr weit entfernt vom Papsttum des Mittelalters oder der Renaissance.
Der heutige Papst ist ein homo spiritualis, er verfügt nicht mehr über politisch-territoriale Macht. Das Papsttum ist seit den ersten Jahrhunderten seiner Geschichte universal, ja global, weil es im Grunde genommen Erbe des römischen Reiches ist. Wir sind in einer Zeit der Globalisierung; das Papsttum konnte sich, wenn man sich das über die lange Dauer anschaut, ständig modernisieren, ob gut oder schlecht sei dahingestellt.
Kahl: Welcher Papst in der gesamten Kirchengeschichte fasziniert Sie am meisten?
Paravicini Bagliani: Wenn ich die lange Geschichte des Papsttums betrachte, wird es schwierig, nur einen einzigen Papst zu finden. Aber eine Vorstellung habe ich zumindest. Es faszinieren mich Päpste, die die Welt verändert haben, deren Pontifikat in irgendeiner Weise mit einer neuen Welt koinzidiert.
Das ist Gregor der Große, der Papst um 600 n. Chr. Er hat den Wechsel von der Antike zum Mittelalter begleitet. Er war der erste Papst, der das Wort Europa geopolitisch gebraucht hat. Er war der Papst, der England missioniert hat. Er ist auch der Papst, der am meisten geschrieben hat. Er ist sicher der mittelalterliche Autor, der am meisten kopiert wurde. Im Forschungsinstitut in Florenz, das ich leite, sind wir dabei den Katalog der Handschriften Gregors des Großen zu publizieren: es gibt deren etwa 9000. Gregor der Große hatte eine klassische Ausbildung und hat in seinen Werken sozusagen das neue Mittelalter eingeführt. Daher war er ein Papst, der die Welt geändert hat.
Auch Johannes XXIII. hat die Kirche geändert, mit seinem Konzil. Aber der Papst der mich am meisten fasziniert, weil ich ihn historisch besser kenne, ist einer der Päpste, der auf dem Gebiet der Symbolik und der Selbstdarstellung sicher einer der kreativsten gewesen ist.
Das ist Bonifaz VIII., der Papst des ersten Jubiläums der Christenheit (1300), der Papst, der einen großen Konflikt mit dem König von Frankreich gehabt hat. Das ist ein Papst, der historisch sehr interessant ist. Man kann auch den Körper des Papstes studieren. Er ist der erste Papst, der sich in Statuen darstellen ließ, die eine Fusion des physischen Leibes des Papstes mit der Person des Papstes vollbrachten. Er ist der erste Papst, der die Schlüssel Petri in der Hand hält. Er ist der erste Papst, der wie Christus segnet. Er ist der erste Papst, der eine sehr hohe Tiara auf dem Kopf trägt, die die Arche Noah versinnbildlicht. Also eine Kreativität, die keine Grenzen hat. Das war Bonifaz VIII., der letzte wirklich mittelalterliche Papst.
Kahl: Die Päpstin Johanna: Der Dominikanermönch Martin von Troppau erwähnt 1278 in seiner „Chronik der Päpste und Kaiser“ erstmals ausführlich diesen Kasus. Als Beweise für eine Frau im höchsten Priesteramt werden oft der sella stercorata (ein Stuhl ohne Sitz) genannt, Ihre Darstellung in der Kathedrale in Siena sowie der veränderte Papstweg (Vicus papessa) angeführt. Mythos? Legende? Was meinen Sie? Hat es eine Frau auf dem Heiligen Stuhl gegeben?
Paravicini Bagliani: Legende! Und der Beweis, dass es eine Legende ist, kommt paradoxerweise von Rom selbst. Zwei Jahrhunderte vorher, also Mitte des 11. Jahrhunderts, schreibt ein Papst an den Kaiser von Konstantinopel: „Ja, ja, es hat einen Patriarchen in Konstantinopel gegeben, der eine Frau war.“ Zwei Jahrhunderte später, um 1250, schreibt plötzlich ein Dominikaner aus Metz, Johannes von Mailly, über eine Frau, die Papst geworden ist. Diese Geschichte verbreitet sich dann besonders durch die Chronik Martin von Troppaus.
(lacht) Einmal habe ich einen Vortrag in Genf über die Päpstin Johanna gehalten. Da kam am Schluss eine Frau zu mir und sagte: „Sie haben das sehr gut gemacht, aber ich werde auch weiterhin daran glauben, dass es eine Päpstin Johanna gegeben hat.“
Die Päpstin Johanna ist im Grunde eine Variante einer hagiographischen Tradition, die besonders im byzantinischen Reich sehr verbreitet war. Da wird erzählt, dass eine Frau Mönch wird, ohne dass die Mönche das wissen, und sie kann sogar Abt werden. Erst bei ihrem Tod merken die Mönche, dass sie eine Frau war. Dann gibt es zwei Lösungen. Entweder wird sie dämonisiert, weil sie das nicht hätte tun dürfen, denn Mönche können zumindest in diesem Kontext nur Männer sein, oder sie wird heroisiert, heilig, weil sie – wie die Mönche – Perfektion gewollt hat.
Es gibt noch eine weitere Legende, die von einem französischen Dominikaner zum ersten Mal beschrieben wurde, gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Dieser Dominikaner, Robert d'Uzès, schreibt, was nachher bis ins 16. Jahrhundert immer wieder erzählt wird, nämlich, dass der gewählte Papst auf einem Stuhl sitzen muss, damit seine Virilität überprüft werden kann, also ob er ein Mann ist. Das ist aber auch eine Legende. Alle Autoren, die davon sprechen, sagen nie, dass sie das gesehen haben, sie sagen immer: „Ich habe gehört…, man sagt …“.
Diese Legende hat aber eine klare Logik. Sie entstand, um zu sagen, dass es keine zweite Päpstin geben würde. Wir wissen erst seit dem 19. Jahrhundert, dass es eine Legende ist. Die erste moderne Forschung über die Päpstin Johanna stammt von einem Deutschen, Ignaz Döllinger (1863) mitten im Kulturkampf! Im Mittelalter und in der Renaissance hat man an ihre Existenz geglaubt. Auch die Dominikaner Johannes von Mailly und Martin von Troppau haben geglaubt, dass es eine Päpstin gab. Sie haben aber davon gesprochen, auch um klarzustellen, dass die Nachfolge der Päpste deswegen nicht in Frage gestellt werden sollte.
Übrigens ist der Name Johanna gar nicht in den ersten Texten. Es ist wie bei Wilhelm Tell. In den ersten Texten ist kein Ort, kein Name. Je mehr die Zeit vergeht und je mehr neue Texte entstehen, präzisiert man die Zeit und den Namen. Und Johanna ist auch nicht der einzige Name. Es gibt auch Texte, die von einer gewissen Agnes sprechen; es gibt Texte, die sagen, sie ist aus Mainz, andere aus England, auch das beweist, dass es eine Legende ist.
Mythen und Legenden sind oft wichtiger als die Realität. Wilhelm Tell ist für die Schweiz wichtiger, weil es ein Mythos ist. Legenden sagen essenzielle Dinge aus. Im Falle der Päpstlichen Johanna sagt die Legende, was der Papst nicht sein muss oder nicht sein soll; und auch, dass das Papsttum nicht eine Dynastie ist.
Kahl: Das Thema Schuld. Sie kennen sicher das Theaterstück „Der Stellvertreter“ von Rolf Hochhuth. Darin beschäftigt sich der Dramatiker mit der Rolle des Papstes im 2. Weltkrieg. Warum hat Ihrer Meinung nach Papst Pius XII im 2. Weltkrieg geschwiegen?
Paravicini Bagliani: Das ist eine der schwierigsten Fragen, weil ein Historiker ein Schweigen sehr schlecht analysieren kann. Es ist schwierig, weil Historiker immer Texte brauchen. Und leider muss man sagen, kann man über die ganze Dokumentation, die ganze Quellenlage, alle Texte, die im Vatikan liegen, noch nicht verfügen. Das Pontifikat Pius XII. ist noch nicht ganz freigegeben. Deswegen ist es so schwierig. Vielleicht gibt es eine einfache Antwort, die natürlich nicht ganz befriedigt. Vielleicht hat Pius XII. – er war immer gut informiert – auch über Juden geschwiegen, aus Angst vor Repressalien. Das wäre vielleicht die einfachste Lösung.
Ein Schweigen lässt aber immer die Lage offen. Das umso mehr als das Papsttum als Institution im Mittelalter und der Renaissance oft den Juden, insbesondere den römischen Juden, auch Schutz gewährt hat. Es ist eine Grundthese, die von Historikern des Judentums oft geteilt wird. In Trient 1475 entsteht die letzte große Anklage gegen Juden, einen Ritualmord an einem Jungen (Simonin) geplant zu haben. Der Bischof von Trient, Johannes Hinderbach, ist der Ankläger. Die Prozessakten zeigen aber, dass der Nuntius des Vatikans damals viel vorsichtiger war. Er wollte Beweise haben und Schutz gewähren. Auch im 13. Jahrhundert gibt es eine solche Affäre in Fulda. Kaiser Friedrich II. mischt sich ein und auch Papst Innozenz IV., sein Zeitgenosse. Beide wollen zuerst Beweise.
Pius XII. hat wahrscheinlich gemeint, es sei besser, zu schweigen. Er kannte Deutschland sehr gut, er war Nuntius in Deutschland gewesen. Es wird immer eine Frage sein, auf die es wahrscheinlich niemals eine Antwort geben wird. Außer man findet neue Texte, die diese schwierige Frage klären. Aber ich bin skeptisch.
Kahl: Niemand arbeitet nur aus Eigennutz. Welchen Nutzen hat Ihre wissenschaftliche Beschäftigung mit der Papstforschung für die Menschen außerhalb der Universitäten?
Paravicini Bagliani: Das ist eine ganz wichtige Frage, die alle Akademiker betrifft. Ich glaube, unsere Pflicht ist, Forschung zu betreiben, so gut wie es geht, damit man auch seriöse Ergebnisse erzielt. Aber wir müssen auch darauf achten, dass sich unsere Forschung in der Öffentlichkeit ausbreitet. Ich habe das im Kleinen versucht. Als Papsthistoriker habe ich viel in Zeitungen geschrieben, in der Zeitung La Repubblica zum Beispiel. Ich finde, dass die Ausbreitung des Wissens verifiziert sein muss und seriös aufgebaut; aber wir müssen ihre Verbreitung – durch Zeitungen, durch Bücher – als Pflicht ansehen. Ich bin mit Ihnen einverstanden, Forschung darf nicht Eigennutz sein.
Kahl: Ja, Herr Paravicini, zum Abschluss noch eine nicht ganz ernst gemeinte Frage. Was glauben Sie, welches Medikament wird im Vatikan am meisten verkauft?
Paravicini Bagliani: … Ich weiß es nicht.
Kahl: Es ist Aspirin, die Kopfschmerztablette.
Paravicini Bagliani: Ach ja, ich habe auch an Aspirin gedacht. Aber warum gerade im Vatikan?
Kahl: … weil sich die Leute viele Gedanken machen?
Paravicini Bagliani: Die Kopfschmerzen kommen aber vielleicht nicht von zu viel Arbeit. Einmal wurde Johannes XXIII. gefragt – so wird es erzählt –, wie viele Leute im Vatikan arbeiten. Der Papst soll geantwortet haben: Die Hälfte. (lacht)
Kahl: Ich danke Ihnen sehr herzlich für das tolle Gespräch und wünsche Ihnen noch eine schöne Zeit an unserer Universität.
Das komplette Interview als Video unter
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Alle Transfergeschichten unter www.transfer.uni-wuppertal.de/transfergeschichten.html
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