„Jahr100Wissen“: „Der Genius im Kinde“ ist 1921 die erste Kinderkunstausstellung
Herr Krautz, im Frühjahr 1921 stellte in Mannheim eine nie dagewesene Ausstellung mit dem Titel „Der Genius im Kinde“ erstmalig die künstlerischen Fähigkeiten von Kindern in den Mittelpunkt. Was wollte der Initiator, Gustav Hartlaub, mit dieser Schau erreichen?
Die Ausstellung war für das kunstpädagogische Denken wegweisend in zweifacher Hinsicht: Die Kinderzeichnung wurde nicht mehr nur als defizitär betrachtet, also als „noch nicht gekonnt“ gemäß den Maßstäben erwachsenen Könnens. Hartlaub schrieb dem kindlichen Gestalten vielmehr einen eigenen Wert zu, weil er zeigen konnte, dass es eigene bildnerische Logiken und Qualitäten aufweist. Hartlaub macht darauf aufmerksam – und das ist für heute von neuer Bedeutung – dass sich im Zeichnen, Malen, Plastizieren der Kinder und Jugendlichen eine anthropologische Disposition, also eine Möglichkeit des Menschen zeigt, die nach Verwirklichung drängt. Das ist der Kern der Begründung von Kunstunterricht in öffentlichen Schulen: Diese Disposition können und müssen wir bilden.
Insofern hat Hartlaubs Arbeit dazu beigetragen, die Sensibilität für die Förderung des bildnerischen Gestaltens bei Kindern und Jugendlichen auch in einer breiteren Öffentlichkeit zu wecken. Zudem ist die bei Hartlaub sichtbar werdende Entwicklungspsychologie des bildnerischen Gestaltens seitdem umfassend erforscht worden. Sie gilt heute als Grundlage für kunstpädagogisches Lehren und Lernen und wird auch bei uns im Studium der Kunstpädagogik vermittelt.
Allerdings hat Hartlaub mit dem Reden vom „Genius im Kinde“ zugleich ein folgenreiches Missverständnis befördert. Nämlich den, Kinder würden Kunst machen, und dies sei gewissermaßen in einem ursprünglichen „Genius“ veranlagt. Kinder machen keine Kunst im avancierten Sinne. Das können und müssen sie auch gar nicht, es geht um etwas viel Grundlegenderes, nämlich das bildnerische Darstellungsvermögen.
Hartlaub ließ sich auch von seinem Sohn Felix inspirieren. In der unverbildeten, kindlichen Darstellungsweise sah er Parallelen zur primitiven Kunst und entdeckte kunsthistorisches Neuland. Hielten ihn seine Zeitgenossen nicht für naiv?
Die Faszination des Kunsthistorikers Hartlaub für das bildnerische Schaffen seines Sohnes ist ja nichts Ungewöhnliches. Das geht den meisten Eltern so und ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass junge Menschen eine Neigung zur Kunst entwickeln können. Das wird auch bei seinem Sohn Felix so gewesen sein.
Ob und wie die Aufmerksamkeit dafür ausgebildet ist, ist aber historisch und kulturell bedingt. Kinder zeichnen nur dann, wenn das entsprechende Material verfügbar ist und dies kulturell erwünscht und gefördert wird. Das ist in unserem Kulturkreis erst seit etwa 150 Jahren der Fall, seitdem also günstiges Papier und Stifte verfügbar war. Um 1880 „entdeckte“ man die Kinderzeichnung buchstäblich als eigene Gestaltungsform. Das heißt, man wurde auf ein Phänomen aufmerksam, das vorher einfach kaum jemanden interessiert hat.
Historisch bedingt ist daher auch, was man darin sieht: Hartlaub stellte dem Geist seiner Zeit folgend expressionistische Kunst aus. Kaum verwunderlich „entdeckte“ er solche Qualitäten in den Arbeiten seines Sohnes. Der sog. „Primitivismus“ war in der Kunst der Zeit ja en vogue: Der japanische Holzschnitt beeinflusste die Impressionisten, Picasso und andere ließ sich von afrikanischen Masken inspirieren usw. Überall lag das romantische Motiv zugrunde, etwas „Unverfälschtes“, „Unverdorbenes“ zu entdecken und zu machen. Man wollte Ausbrechen aus dem rationalen, verwissenschaftlichten und technischen Zeitgeist der westlichen Kultur.
Für die Kunst war das sehr bereichernd, wenn die Art und Weise der Rezeption anderer Kulturen aus heutiger Sicht auch fragwürdig war. Für die Kunstpädagogik war das aber eben auch problematisch: Wenn das „Unverbildete“, wie auch in der Frage formuliert, zum Ideal wird, ist ein verhängnisvoller Gegensatz von Kultur und Bildung konstruiert. Dann bildet man sich nicht mehr an der Kultur, sondern diese erscheint als Ballast, mit dem man Kindern tendenziell etwas antut.
Aus der Ausstellung mit dem Titel „Der Genius im Kinde“ entstand ein Jahr darauf die erste gleichnamige Publikation, in der Hartlaub die Frage nach der Weiterbildung kindlicher Möglichkeiten stellt. Wie werden heute künstlerische Begabungen gefördert?
Künstlerische „Begabung“ gibt es bis auf ganz wenige Sonderfälle nicht. Genauso wenig wie andere „Begabungen“, wenn man darunter wie öffentlich üblich, feste Prädispositionen versteht.
Aufgabe von Kunstunterricht ist nicht „Begabungen“ zu diagnostizieren und zu fördern, sondern alle Kinder und Jugendlichen zu begaben! Begabender Kunstunterricht geht von den grundlegenden, anthropologischen „Begabungen“ aus: Jeder Mensch verfügt über visuelle und gesamtleibliche Wahrnehmungsfähigkeit, über ein reiches bildhaftes Vorstellungsvermögen und die grundsätzliche Möglichkeit, bildnerische Darstellungen in den unterschiedlichsten Gattungen und Medien zu entwickeln. Das kann und muss man Kindern und Jugendlichen gezielt beibringen, damit sie überhaupt das, was sie an Kreativität ebenso natürlich mitbringen, in eine Form bringen können, die in unserer kulturellen Welt für andere bereichernde Mitteilung machen können. Kunst ist nicht reiner Selbstausdruck, sondern eine Möglichkeit, sich mit der Welt, den Mitmenschen und mir selbst in eine Beziehung zu setzen, der man über Gestaltung eine wahrnehmbare Form geben kann.
Die Blickumkehr von dem, was Kinder oder Jugendliche von sich aus vermeintlich „unverbildet“ aufgrund von „Begabung“ tun, auf die Aufgabe des Begabens, führt in unserer kunstdidaktischen Forschung dazu, dass Kinder und Jugendliche bislang kaum für möglich gehaltene Entwicklungssprünge machen. Die könnte man für „Hochbegabung“ halten, tatsächlich sind sie Ergebnis intensiver und kooperativer Lehr- und Lernprozesse.
Herr Krautz, Sie haben im letzten Jahr eine systematische „Einführung in die Kunstpädagogik“ veröffentlicht. Wie wichtig ist Kunst im Unterricht?
Wenn Sie das einen Kunstpädagogen fragen, ist die Antwort natürlich klar: enorm wichtig. Ich will nun aber nicht die romantischen Pathosformeln herunterbeten, die ich oben kritisiert habe. Das hilft nicht weiter.
Kunstunterricht ist wichtig, weil er ein zentraler Teil Allgemeiner Bildung ist. Das ist kaum noch verständlich, in einer Zeit, in der man vor allem auf den PISA-relevanten Kompetenz-Output schaut. Aber wir leben in einer wie kaum zuvor von Bildern geprägten Zeit, wir haben eine reiche künstlerisch-kulturelle Tradition und wir haben das grundsätzliche Bildvermögen der Kinder und Jugendlichen, dass nach Betätigung und Bildung drängt: Das sind im Wesentlichen die gesellschaftlichen, fachlichen und anthropologischen Ebenen der Begründung von Kunstunterricht. Wir brauchen ihn, weil das eigene Wahrnehmen-, Vorstellen und Gestaltenkönnen mit allen Sinnen und dem ganzen Leib ganz zentral zu unserer Vorstellung von Menschsein gehört. Derart können Schülerinnen und Schüler sich gestaltend und verstehend in die unfassbar große Tradition von Bildender Kunst und angewandter Bildkultur einfinden. Sie können sich diese anverwandeln, also zu etwas machen, das sie selbst bereichert. Und sie können sie auch kritisch beurteilen.
Damit leistet Kunstunterricht auch Beiträge zu Qualifikationen, die etwa beruflich relevant sind, das vergisst man gerne. Aber das sind Begleiteffekte eines gut strukturierten, vielfältigen Kunstunterrichts, nicht sein Hauptziel. Dazu aber brauchen wir nicht alle möglichen Kunst-Einzelprojekte und am Nachmittag „Künstler an die Schulen“, sondern einen durchgehenden Kunstunterricht über alle Schuljahre hinweg. Wir versuchen unseren Teil dazu beizutragen, indem wir künftige Kunstlehrerinnen und -lehrer bilden, die das auch können, wenn man sie lässt.
Uwe Blass
Das komplette „Jahr100Wissen“-Interview lesen Sie hier.
Prof. Dr. Jochen Krautz studierte Kunst, Latein und Erziehungswissenschaften in Wuppertal und Köln. Seit 2013 lehrt er als Professor Kunstpädagogik in der Fakultät Design und Kunst der Bergischen Universität.