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Jahr100Wissen: „Das Bauhaus hat die Offenheit, Widersprüchliches zuzulassen“

12.04.2019|08:12 Uhr

In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben. Am 12. April 1919 wurde Walter Gropius Direktor des Bauhauses. Ein Jahr100Wissen-Interview mit der Professorin für das Fachgebiet Baukultur und Raumgestaltung, Prof. Dr. Annemarie Neser.

Prof. Dr. Annemarie Neser<br /><span class="sub_caption">Foto Design Benner</span>

Frau Neser, die Entstehung des Bauhauses wird immer eng mit Walter Gropius verbunden sein. Wer war dieser Mann, der am 12. April 1919 Direktor des Staatlichen Bauhauses in Weimar wurde?

Neser: Gropius war Berliner, Bauhaus-Lehrer, er war Gründer einer der wichtigsten Architektur- und Designschulen, Ehemann, Hochschullehrer in Harvard und ein Mann des Wortes. Er war Teamarbeiter und vor allem ein Begründer des modernen Architektenkollektivs. Ein Tausendsassa, wenn man so will, der sehr bestimmt auftreten konnte. Er kommt aus einer großen Architektenfamilie und ich als Berlinerin habe natürlich immer den prominenten Gropius-Bau im Blick, der nach den Plänen seines Großonkels, Martin Gropius, errichtet wurde. Bezogen auf das Bauhaus ist er der Gründer, auch der Erfinder des Namens. Henry van de Velde schlägt ihn als einen von drei Kandidaten für das Direktorium vor und Gropius tauft die Kunstgewerbeschule dann in Bauhaus um. Bereits da formuliert er seine Idee der Verbindung der Künste, die Idee der mittelalterlichen Bauhütte, die dem Bauhaus seinen inneren Kern und Charakter gibt.
Er ist ein Macher und Visionär und doch verweist er die Frauen am Bauhaus vor allem in die Webereiwerkstatt. Trotzdem wurde die Weberei bald zu einer der erfolgreichsten und produktivsten Werkstätten am Bauhaus und die dort fabrizierten Arbeiten führten letztlich zu einer Neubewertung der Textilkunst. Gut am Beispiel der Künstlerin Anni Albers zu sehen, die über die Beschäftigung mit dem Material und ihrer Arbeit am Webstuhl eine ganz eigenständige, künstlerische Sprache entwickelte und die Möglichkeiten des Webens hoch kreativ erweiterte.

Im Bröhan-Museum in Berlin läuft noch bis Ende Mai die Ausstellung „Von 'Arts and Craft' zum Bauhaus. Kunst und Design – eine neue Einheit!“ Die Schau erzählt praktisch die Vorgeschichte des Bauhauses, und zeigt grundlegende gestalterische und theoretische Positionen auf, die die Gründung des Bauhauses erst ermöglicht haben. Welche Positionen oder Grundlagen waren das?

Neser: Die Ausstellung ist absolut empfehlenswert. Sie zeigt anhand eindrucksvoller Beispiele, dass das Bauhaus nicht voraussetzungslos war, sondern dass ca. 50 Jahre früher vieles bereits vorgedacht ist. Der Untertitel „die Einheit der Künste“, dieses Verschmelzen von Kunst und Handwerk, wird wunderbar an den ausgestellten Möbeln verdeutlicht. Wichtig war die Rückbesinnung auf eine handwerklich hohe Qualität und ein vertieftes Wissen um Materialqualitäten, eine profunde und phantasievolle Feinheit im Umgang mit den Materialien.
Grundlegend ist die Ablehnung der Industrialisierung. Bei der großen Vorgängerbewegung „Arts and Crafts“ wollte man dem Historismus und der industriellen Produktion eine moderne Gestaltung gegenüberstellen. Und das war die Verschmelzung von Kunst und Handwerk. Zentrale Merkmale sind die Einfachheit, Materialgerechtigkeit, die Reduktion und der Verzicht auf Repräsentation sowie die Orientierung an der Funktion, an baukonstruktiven Elementen. Ein auslösendes Moment war die erste Weltausstellung in London 1851 und sozusagen der „Auftritt“ der Industrieprodukte. Auch der Einfluss durch die Öffnung des japanischen Reiches ist nicht zu unterschätzen – in London fanden in diesen Jahren zwei große Ausstellungen zur Japanischen Kunst statt, die großen Anklang fanden. Man entdeckt die Schlichtheit, Reduktion und Funktionalität, die etwa für Häuser und Mobiliar bestimmend sind, die Formstrenge der japanischen Kunst. Im Bröhan-Museum gibt es z. B. eine sehr reduziert gestaltete Zimmergießkanne von Christopher Dresser um 1895. Sie ist verblüffend und eindrucksvoll und passt eigentlich überhaupt nicht in die Zeit. Diese Überraschungen kann man in der Ausstellung immer wieder erleben.

Durch die Industrialisierung und die dadurch resultierende Serienfertigung starben viele handwerkliche Betriebe. Daher wirkten schon Mitte des 19. Jahrhunderts Architekten, Künstler und Kunsttheoretiker diesem Trend entgegen, und es entwickelte sich der neue Beruf eines künstlerisch denkenden und arbeitenden Handwerkers – sprich des Gestalters. Die „Arts and Craft“-Bewegung setzte konsequent auf die Ästhetik des Handgefertigten und ebnete den Weg in die Moderne. Was machte das Moderne damals aus?

Neser: Kernprinzip ist die Nicht-Trennung von schöner und angewandter Kunst. Das Moderne ist die Zusammenarbeit von Künstlern und Handwerkern für die Dinge des Alltags. Gerade bei dem eben angesprochenen Beispiel von Christopher Dresser zeigen seine Gestaltungen einen Sinn für Reduktion und die Freiheit von den historischen Stilen. Es zeigt sich auch die besondere Verbindung von Schönheit, Nützlichkeit und Qualität. Eine schlichte, sachlich konstruktive Gestaltung. Es ging um Formvereinfachung, Funktionalität und einen bewussten Umgang mit dem Material.

Entscheidenden Einfluss auf das Bauhaus hatten neben der „Arts and Craft“-Strömung u.a. auch die Glasgow School, der Wiener Jugendstil, der Deutsche Werkbund oder die holländische Gruppe De Stijl. Der belgische Architekt Henry van de Velde ließ sich sogar unter anderem von der japanischen Innenarchitektur der Edo-Zeit inspirieren. Wie entwickelte sich daraus die eigenständige Formsprache des Bauhauses?

Neser: Ich würde für das Bauhaus eine Stilpluralität beanspruchen. Das Bauhaus ist gekennzeichnet von einer Vielzahl von Ansätzen und entwickelt daraus ein Lehrprogramm, nicht einen Kunststil. Das war eine der großen Qualitäten von Gropius, dass er nicht versucht hat, einen Kanon, ein System, eine festgefügte Einheit zusammen zu bringen, sondern das künstlerische Durcheinander der Positionen am Bauhaus gefördert hat. Er holte unterschiedliche, oft schon weltberühmte Künstler an sein Haus. Er hat den Stilpluralismus leben lassen, also eher befördert als behindert. Insofern gibt es für mich nicht ein Bauhaus und einen Stil. Das hat man vielleicht in Möbelhäusern, weil man Bauhaus dann mit kubischen Formen verbindet. Oder seit etwa zehn Jahren sind auch wieder „Bauhausvillen“ en vogue. Jeder baut sich ein Würfelhäuschen mit Flachdach. Das ist aber eine Verflachung von Bauhaus. Bauhaus ist viel mehr.

Im Zentrum von Wuppertal Elberfeld haben wir das ehemalige Kaufhaus Michel, heute „Haus Fahrenkamp“, das 1929/30 komplett im Bauhausstil umgebaut wurde und damals als das modernste Kaufhaus Westdeutschlands galt. Was macht diesen Bau so besonders?

Neser: Ich kenne das, weil einer meiner Lieblingsbauten in Berlin das Shell-Haus ist (ein fünf- bis zehngeschossiger Bau am Landwehrkanal im Berliner Ortsteil Tiergarten; Anm. d. Red.) und das ist der gleiche Architekt. Das Fahrenkamp-Haus hier ist zwei Jahre älter, aber es ist ähnlich von der Konstruktion. In Wuppertal ist es ja ein Umbau. Das Besondere ist, dass der Architekt damals das gemacht hat, was sehr modern war. Er hat die gestalterischen Möglichkeiten des Skelettbaus genutzt. Er hat die Vorhangfassade mit Brüstungsbändern und Fensterbändern klar strukturiert und um das gesamte Haus gezogen. So werden Vorgängerbau und Erweiterungsbau zu einem einheitlichen Bau zusammengefasst. Das Haus steht an einer imposanten Ecke und diese ist markant positioniert, ohne wichtigtuerisch zu sein, aber eben doch nicht unauffällig. Eine gelungene Nutzung einer Ecksituation.

Das Bauhaus bestand von 1919 bis 1933 und gilt heute weltweit als Heimstätte der Avantgarde der Klassischen Moderne auf allen Gebieten der freien und angewandten Kunst und Architektur. Beeinflusst uns dieser Stil auch noch nach 100 Jahren?

Neser: In der Vielfalt, die ich im Bauhaus sehe, beeinflusst er uns immer noch – in all seinen Positionen. Das Bauhaus ist ein wichtiger Resonanzboden, auf dem wir als Gestalter, Künstler oder gute Handwerker alle stehen und uns immer wieder befruchten lassen können. Die Studierenden sollten erforschen, verändern, alternativ denken, experimentell arbeiten – ähnlich wie in einem Laboratorium. Bedeutsam ist aus meiner Sicht die Offenheit, Widersprüchliches zuzulassen, die Möglichkeit zur Veränderung, eine beständige Bereitschaft zum experimentellen Suchen. Dies scheinen mir wichtige Voraussetzungen zu sein, dass Neues entstehen kann. Darin liegt die große Innovationskraft. Das künstlerische Erforschen von Handwerkstechniken, von Materialitäten und Praktiken, überhaupt von neuen Möglichkeiten und nicht zu vergessen, die Überlegungen zur gesellschaftlichen Bedeutung von Gestaltung – das sind Dinge, über die wir auch heute an den Kunsthochschulen nachdenken. Ein guter Ausgangspunkt um Neues zu entwickeln, ist eben der Widerspruch. Dann muss ich mein Projekt energischer konturieren, klären, detaillieren.

Das Interview führte Uwe Blass.


Prof. Dr. Annemarie Neser promovierte 2005 an der Fakultät für Architektur der Universität der Künste Berlin mit einer Arbeit zur Preußischen Denkmalpflege. Seit 2007 arbeitete Prof. Neser außerdem als Dozentin am Zürcher „Haus der Farbe“, dessen Außenstelle in Berlin sie ab 2010 leitete. Von 2014 bis 2017 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bergischen Universität im Fachgebiet Didaktik der Visuellen Kommunikation sowie Koordinatorin der interdisziplinären Bildungsplattform „colour.education“. Seit 2019 ist sie Professorin für Baukultur und Raumgestaltung in der Fakultät Design und Kunst in Wuppertal.

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