Jahr100Wissen: Das Ende des „Fräulein Lehrerin“ vor 100 JahrenEin Interview mit Erziehungswissenschaftlerin Prof. Astrid Messerschmidt
Der Lehrerinnenzölibat wurde per Ministererlass 1880 im Deutschen Reich eingeführt. Er bedeutete die sofortige Kündigung von Frauen, die sich zu einer Ehe entschlossen. Was sollte durch diesen Erlass erreicht werden?
Dieser Lehrerinnenzölibat spiegelt die Geschlechterordnung der damaligen Zeit wider, die aber auch heute noch nicht ganz vergangen ist. Die Regelung zeigt deutlich, welcher Argwohn gegen eine höhere Berufstätigkeit von Frauen gehegt wurde. Sie drückt ein Frauenbild aus, das sehr stark verbunden ist mit Körperlichkeit, mit unbeherrschter Sexualität und mit der Vorstellung, die Frau sei von ihrem Unterleib gesteuert. Dieser Verdacht, dass Frauen einfach nicht fähig sind, wirklich zu denken und folglich auch zu lehren, spiegelt etwas von der Zeit wider. Wir haben ja im 19. Jahrhundert auch den Hysterie-Diskurs in der Medizin, der Frauen als emotional unberechenbar und krankhaft von ihren Gefühlen abhängig repräsentierte.
Das ist die eine Seite. Aber es gibt auch noch eine andere, viel nüchternere Seite des Zölibats, der sich ausschließlich auf Frauen bezog: nämlich schlicht und ergreifend den Arbeitsmarkt. Durch diesen Lehrerinnenzölibat konnte natürlich eine ganz große Gruppe, die eine Konkurrenz für Männer darstellte, ausgeschaltet und ausgegrenzt werden. Ich würde das Ganze insofern einerseits in das Frauenbild einordnen und andererseits in die Funktionen für einen geschlechterseparierten Arbeitsmarkt.
Die Weimarer Reichsverfassung schaffte diese Diskriminierung am 31. Juli 1919 im Artikel 128 II – zunächst – ab. Wie konnte es passieren, dass derselbe Lehrerinnenzölibat bereits vier Jahre später wiedereingeführt wurde?
Das hat mit den arbeitsmarktpolitischen Gründen zu tun. Der Lehrerinnenzölibat ermöglichte mehr Arbeitsstellen für Männer in pädagogischen Berufen. Das war das Hauptmotiv. Zum anderen muss man sehen, mit dieser Abschaffung 1919 war ja keine Kulturrevolution in Deutschland verbunden. Da ist im Denken der Gesellschaft nichts tiefgreifend verändert worden. Zwar hat sich etwas bewegt, es ist ja auch geschlechterpolitisch eine bewegte Zeit in der Weimarer Republik. Viele Frauen treten mit Emanzipationsansprüchen auf. Die Frauenbewegungen sortieren und engagieren sich. Zugleich ist es eine Zeit, in der dennoch diese alte Geschlechterordnung weiterhin besteht. Also eine disparate Situation, die ja auch sehr lange anhält.
Bis in die 1950er Jahre versuchte man den Zölibat sogar mit religiösen Werten zu rechtfertigen. Die Vorsitzende des Vereins Katholischer deutscher Lehrerinnen, Maria Johanna Schmitz, schrieb in der Katholischen Frauenbildung 1955: „Die Lehrerin – wie wir sie gewünscht und erzogen haben – soll sich mit ganzer Kraft ihrem Beruf widmen. Sie soll Ausscheiden aus dem Beruf, wenn sie erkennt, daß sie in die Ehe eintreten und einen anderen hochwertigen Beruf ergreifen soll. (…) Sie soll aus diesem Erleben heraus die Fähigkeit haben, den Lehrberuf auch als Lebensberuf zu sehen, sich ihm für immer zu weihen, und sie kann das umso mehr, wenn sie in der katholischen Kirche steht, die ihr in der Lehre von der gottgeweihten Jungfräulichkeit einen herrlichen Fingerzeig, ja eine Verklärung für diese Ganzheitsaufgabe des Berufes gibt“. War eine arbeitende Frau mit Familie in der Wirtschaftswunderzeit so unvorstellbar?
Einerseits das, aber – wie in dem Zitat deutlich wird – hat es viel mit der Spezifik des Lehrerinnenberufes zu tun. Die moralische Aufladung einer Lehrerinnentätigkeit wird ja hier ganz deutlich angesprochen. Das alles richtete sich gerade auf diesen Beruf, denn es gab ja kein allgemeines Berufsverbot für verheiratete Frauen. Die Tätigkeit des Lehrens, Unterrichtens und Vermittelns, die den Lehrerinnenberuf ausmacht, war sehr stark staatlich und kirchlich verankert. Das hat auch beamtenrechtliche Gründe. Hier tritt die moralische Aufladung sehr deutlich hervor.
Auch mit dieser Vorstellung, dass es sich um eine Lebensaufgabe handelt. Das ist fast eine klösterliche Vorstellung. Man weiht sich diesem Beruf, man gibt das ganze Leben dafür. Dieses Ideal ist mit dem Beruf verbunden, und diese Ansicht teilten viele Frauen. Auch Teile der bürgerlichen Frauenbewegung haben den Zölibat verteidigt und waren gar nicht für die Abschaffung. Ich glaube, das muss man im Nachhinein verstehen: Sie sahen darin eine strukturelle Maßnahme, die Unabhängigkeit vom Mann abzusichern.
Es hat also durchaus eine emanzipatorische Seite, was ja auch das klösterliche Leben hatte. Auch das klösterliche Leben der Nonnen hatte emanzipatorische Seiten. Wir müssen wirklich die Ambivalenz erkennen, was aus heutiger Sicht nicht ganz so einfach ist. Heute erscheint die Sache ganz und gar konservativ und völlig überholt. Für die bürgerliche Frauenbewegung war das nicht so eindeutig. Es war eben einer der Wege, sich unabhängig vom Mann zu machen, wofür viele Frauen dieser Zeit kämpften.
Die Zölibatsklausel galt bis 1951, das Bundesarbeitsgericht hob sie mit dem Urteil vom 10. Mai 1957 endgültig auf. Damit verschwand auch die Ansprache einer Lehrerin als „Fräulein“. War damit alles in Ordnung?
Natürlich nicht, und dennoch war es ein Fortschritt. Es dauerte zwar noch etwas, bis das „Fräulein“ verschwand. Auch ich kann mich in meiner Studienzeit noch an den Ausdruck „Fräulein“ erinnern. Also ganz so schnell ging das nicht. Das dauerte sicher noch bis in die 1980er Jahre. Aber symbolisch war es schon ein großer Fortschritt, weil mit dem Verzicht auf diese Bezeichnung ausgedrückt wird, dass eine Frau nicht verheiratet sein muss, um als Frau anerkannt zu werden, also um erwachsen zu sein.
Ähnliche Klauseln gab es in Österreich bis 1949 und in der Schweiz bis 1962. Sehen Sie heute noch Benachteiligungen von Frauen im (Lehr-)Beruf?
In der Frage klingt ja schon an, dass damit nicht alles gelöst war. Noch immer ist es so, dass Frauen heutzutage berufliche Nachteile erleben. Nicht weil sie verheiratet sind, sondern weil sie Kinder bekommen könnten. Das ist das Hauptausgrenzungsmotiv, die Potenzialität des Schwangerwerdens, was in bestimmten Branchen wirklich ohne Hemmungen aufgegriffen wird, um Frauen nicht einzustellen. Auch bei Frauen, die noch keine Kinder haben, wird das oft projiziert und erzeugt eine Zurückhaltung gegenüber Einstellungsmaßnahmen.
Aber es gibt noch mehr Faktoren, denn der Lehrer- und Lehrerinnenberuf wird ja in bestimmten Fächern überwiegend durch Frauen ausgeübt, das kann man sehen. Wo es aber ganz anders aussieht, das ist bei den Leitungspositionen. Schulleitungen, selbst in Grundschulen, sind immer noch mehrheitlich in männlicher Hand. Da hat sich noch nicht so viel getan.
Ansonsten hat sich im pädagogischen Bereich einiges bewegt, das ist auch in der Erziehungswissenschaft sichtbar. Was wir aber immer mitbedenken sollten (das zeigt uns auch diese bizarre Geschichte des Lehrerinnenzölibats), dass im Zusammenhang ökonomischer Krisen oft ein Backlash passiert. Also dass dann wieder die Frauen auf bestimmte Verpflichtungen reduziert werden.
Interessant ist auch hier aus den bereits angesprochenen 1950er Jahren der Begriff „Doppelverdiener“, den es glaube ich nur in Deutschland gibt. Ein eigentlich völlig unsachlicher Begriff, weil niemand für sich alleine Doppelverdiener ist, das kann es gar nicht geben. Und dennoch wird es so gesehen. Wenn eine Frau mit einem Partner, der auch verdient, verheiratet ist, spricht man davon. Bei Männern ist das nicht unbedingt der Fall. Das Einkommen der Frau ist in dieser Redewendung eigentlich nicht rechtmäßig. Ich glaube, diese Haltung ist in der deutschen politischen Kultur sehr stark erhalten geblieben. Und das sehe ich auch als Nachwirkung dieser Geschichte des Lehrerinnenberufs mit seinen Sonderregelungen gegen Frauen.
UWE BLASS
Weiteres Jahr100Wissen unter www.transfer.uni-wuppertal.de/de/jahr100wissen.html
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Prof. Dr. Astrid Messerschmidt habilitierte sich für Pädagogik 2009 am Fachbereich Humanwissenschaften der Technischen Universität Darmstadt. Sie arbeitete u.a. als Professorin für Interkulturelle Pädagogik/Lebenslange Bildung an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Seit 2016 forscht und lehrt sie als Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Geschlecht und Diversität an der Bergischen Universität.