Universitätskommunikation – Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

„Jahr100Wissen“: Der vierte Aggregatzustand

12.03.2021|11:02 Uhr

In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftler*innen der Bergischen Universität Wuppertal mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben. Vor rund 100 Jahren wurde der vierte Aggregatzustand entdeckt: Plasma. Ein „Jahr100Wissen“-Interview mit dem Naturwissenschaftler Dr. Hendrik Kersten über einen Schneemann, physikalische Logik und charakteristisches Kollektivverhalten von Teilchen.

Dr. Hendrik Kersten<br /><span class="sub_caption">Foto privat</span><br /><span class="sub_caption">Klick auf das Foto: Größere Version</span>

Was ist eigentlich ein Aggregatzustand, Herr Kersten?

Kersten: Nach einem kurzen Materiecrashkurs werden wir zur Beantwortung dieser Frage einmal gemeinsam einen Schneemann bauen. Zum Crashkurs: Die einzelnen atomaren und molekularen Bausteine der Materie befinden sich in ständiger Bewegung. Je wärmer, desto mehr Bewegungsenergie haben sie. Dem gegenüber steht eine gewisse Bindungsstärke dieser einzelnen Teilchen untereinander. Je nach Sorte der Teilchen, haften sie mal mehr und mal weniger gut zusammen. Genau dieses Verhältnis von Bewegungsenergie und Bindungsstärke bestimmt letztendlich, in welcher Form diese vielen einzelnen Teilchen als zusammenhängendes „Etwas“ auftreten können. Viele, viele Einzelteilchen bilden also aufgrund dieses Verhältnisses eine für uns wahrnehmbare Einheit mit seinen ganz charakteristischen Eigenschaften. Diese Eigenschaften hat es auch nur durch das Kollektivverhalten, jedes Teilchen für sich allein besitzt diese Eigenschaften nicht.

Nun zum Schneemann. Erster Zustand: Um einen Schneemann zu bauen, benötigen wir sehr, sehr viele Wassermoleküle, deren Verhältnis von Bewegungsenergie und Bindungsstärke ziemlich gut abgestimmt sein muss. Fangen wir mit einem kleinen Schneeball an (ca. 1.000.000.000.000.000.000.000.000 – eine Quadrillion Teilchen) und rollen ihn über den schneebedeckten Boden. Damit daraus eine ordentliche Kugel für den Unterbau wird und die von uns vorgegebene Form auch gegenüber der Gravitation beibehält, muss die Materie 1. möglichst kalt sein (also wenig Bewegungsenergie) und 2. eine gute Bindungsstärke der Wassermoleküle untereinander besitzen. Der fertige Schneemann, mit 1,50 Meter Höhe, ordentlichem Bauch und einem grob geschätzten Gewicht von ca. 40 Kilogramm, besteht dann aus stolzen 1.300.000.000.000.000.000.000.000.000 (1,3 Quadrilliarden) Wassermolekülen. Interessant dabei ist, dass die mikroskopisch räumliche Anordnung eines Wassermoleküls zu seinen Nachbarn, was den Abstand und die Ausrichtung angeht, nahezu im gesamten Schneemann (annähernd) gleich ist und sehr charakteristisch für dieses Verhältnis von Bewegungsenergie zu Bindungsstärke. Bleiben die Wetterbedingungen – Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Druck – einigermaßen konstant, so behalten auch diese vielen, vielen Wassermoleküle ihre Einheit in Form der mikroskopischen Anordnung, und damit letztendlich den ersten Zustand unseres Schneemannes, bei.

Zweiter Zustand: Wird es draußen wärmer, bewegen sich die Luftmoleküle schneller und treffen mit mehr Energie auf die Oberfläche des Schneemannes. Damit fangen auch die Wassermoleküle des Schneemannes an sich schneller zu bewegen. Irgendwann wackeln diese so stark hin und her, dass die Bewegungsenergie größer wird als die Bindungsstärke, die für diese besondere räumliche Anordnung der Moleküle im ersten Zustand gesorgt hatte. Das heißt nicht, dass die Wassermoleküle auf einmal gar nicht mehr aneinanderhaften. Lediglich die einzigartige, räumliche Anordnung der Teilchen untereinander, die zur Stabilität des Gesamtkunstwerkes „Schneemann“ geführt hat, kann jetzt aufgrund des neuen Verhältnisses von Bewegungsenergie zu Bindungsstärke nicht mehr existieren. Die 1,3 Quadrilliarden Wassermoleküle formen nun eine neue mikroskopische Anordnung, mit anderem Abstand und deutlich flexiblerer Ausrichtung zu ihren jeweiligen Nachbarn. Als Gesamtheit bilden diese Moleküle einen neuen, zweiten Zustand, mit anderen Eigenschaften. Sie sind zusammen nun nicht mehr formstabil, sondern bilden eine eher fließende Einheit.

Dritter Zustand: An dieser Stelle habe ich ein bisschen was unterschlagen. Es stimmt nämlich nicht so ganz, dass wirklich alle 1,3 Quadrilliarden Wassermoleküle in diesen neuen Zustand übergehen. Nicht alle Teilchen bewegen sich bei einer bestimmten Temperatur gleichschnell. Ein paar sind langsamer und ein paar sind schneller als der Durchschnitt – wie groß der Anteil der Moleküle mit einer bestimmten Geschwindigkeit bei einer bestimmten Temperatur ist, folgt zum Glück einem gut bekannten Gesetz, das haben wir also voll im Griff. Manche sind sogar so schnell, dass die Bindungsstärke zum Nachbarn nicht mehr ausreicht, um dieses Molekül im Gesamtverbund zu halten. Es fliegt einfach als Einzelteilchen auf und davon. Wird dieser Haufen an Wassermolekülen noch wärmer, werden immer mehr und mehr Teilchen in der Lage sein die Bindungsstärke ihrer Nachbarn zu überwinden und als Einzelteilchen wegzufliegen, bis die gesamten 1,3 Quadrilliarden Teilchen nur noch als Einzelteilchen im Raum vorliegen. Der Schneemann hat sich dann sozusagen in „Luft“ aufgelöst. Die Teilchen existieren natürlich noch, sie hängen nur nicht mehr direkt zusammen. Auch dieser neue und gemeinsame dritte Zustand dieser 1,3 Quadrilliarden Teilchen hat bestimmte Eigenschaften. Er nimmt deutlich mehr Raum ein, da der Abstand der Wassermoleküle zueinander auch wesentlich größer geworden ist und er hat keine eigene Form mehr, sondern füllt einfach gleichmäßig die Form aus, die man ihm zur Verfügung stellt.

Wir haben nun gesehen, dass der Schneemann in drei Zuständen existieren kann, die durch Temperaturveränderung und damit durch die Veränderung des Verhältnisses von Bewegungsenergie zu Bindungsstärke ineinander – und auch wiederumkehrbar – überführbar sind. Diese charakteristischen Eigenschaften der drei Zustände, die wir für den Schneemann beschrieben haben, sind auch bei vielen anderen Materialien durch einfache Veränderung der Temperatur beobachtet worden. Der Mensch liebt es, in Kategorien mit Kriterien von Eigenschaften zu denken, um die Dinge in der Welt um sich herum entsprechend einordnen zu können. Die Komplexität der Welt zu strukturieren, damit wir den Hauch einer Chance haben, etwas zu verstehen. So ist es auch hier geschehen.

„Aggregat“ bezeichnet im Lateinischen so etwas wie „Ansammlung“. Entsprechend ist der „Aggregatzustand“ ein „charakteristischer Zustand der Materie, der die spezifischen Eigenschaften, die durch die Ansammlung vieler Teilchen entstehen, bezeichnet“. Die Kriterien für diese drei klassischen Zustände sind echt banal und für jeden einfach feststellbar: Wir ordnen die Materie einfach danach ein, ob sie Form- und Volumenbeständigkeit zeigt. Das war es. Der erste Zustand des Schneemannes war sowohl form-, als auch volumenbeständig und ist allgemein bekannt als der feste Aggregatzustand. Der zweite Zustand ist der flüssige. Dieser behält zwar sein Volumen bei, durch die fließenden Eigenschaften hat er aber keine Formbeständigkeit. Der dritte Zustand ist der gasförmige. Hier behalten die Teilchen als Gesamteinheit weder ihr Volumen bei – sie verteilen sich gleichmäßig in jeglichen Raum, den man ihnen zur Verfügung stellt – noch können die Teilchen eine gemeinschaftliche Form bilden, die als eigenständiges Objekt wahrgenommen werden könnte.

Vor rund 100 Jahren wurde der vierte physikalische Aggregatzustand entdeckt. Um welchen handelt es sich da?

Kersten: Die Frage ist, ob er entdeckt oder einfach definiert wurde. Dieser Zustand der Materie ist ziemlich cool. Unter den Bedingungen hier auf der Erde kommt er auf natürliche Weise eigentlich gar nicht vor, sondern muss immer irgendwie „erzwungen“ werden. Witzig ist aber, dass ca. 99 Prozent der Materie im restlichen Universum genau in diesem Aggregatzustand ganz natürlich vorliegen. Bestes Beispiel ist unsere Sonne. Das Charakteristische an diesem Materiezustand ist die stabile Koexistenz von positiver und negativer Ladung in der Gasphase. Das bedeutet, dass sich einige Elektronen irgendwie aus den Atomen lösen konnten und nun frei und friedlich neben den positiven Restatomen durch den Raum fliegen. Wie kann es denn dazu kommen, dass sich Elektronen aus dem Atom lösen? Die Antwort hierdrauf ordnet diesen Materiezustand berechtigterweise exakt in die Reihenfolge als vierten Aggregatzustand ein. Nicht zwischen eins und zwei oder zwei und drei, sozusagen als Nachtrag aufgrund eines chronologischen Entdeckungsfauxpas, sondern aus rein physikalischer Logik.

Wir haben eben am Beispiel des Schneemannes gesehen, dass wir durch einfache Erhöhung des Verhältnisses von Bewegungsenergie zu Bindungsstärke von Aggregatzustand eins über zwei in drei gelangen konnten. Die Bewegung der Teilchen wurde Stück für Stück stärker, sodass nach und nach die Bindungsstärke für den Zusammenhalt der Teilchen untereinander nicht mehr ausreichte. Das führen wir nun einfach konsequent fort. Aus physikalischer Sicht sind nämlich die Kräfte, die Elektronen im Atom halten von der gleichen Natur, wie die Kräfte, die den Schneemann zusammengehalten haben…nur eben ein bisschen stärker. Das bedeutet, um aus dem dritten Aggregatzustand, der Gasphase, in den vierten Aggregatszustand zu gelangen, müssen wir die Gasphase einfach nur noch wärmer machen. So warm, dass die Bewegungsenergie so heftig wird, dass selbst die Bindungsstärke einiger Elektronen in den Atomen nicht mehr ausreicht, um diese in den Atomen zu halten. Diese paar Elektronen lösen sich nun also als freie, separate Teilchen von den Atomen, so wie sich zuvor die einzelnen Wassermoleküle beim Übergang von der flüssigen Phase in die Gasphase voneinander getrennt haben.

Wie eben erwähnt, ist für diese Elektronenseparation von den Atomen aber ziemlich viel Wärme, also Bewegungsenergie nötig. Auf der Erde haben wir dafür keine natürlich vorkommenden Quellen, sondern wir müssen da ordentlich Arbeit reinstecken, um diesen Zustand durch gezielte Energiezufuhr herbeizuführen. Eine gute Möglichkeit hierfür ist das Anlegen elektrischer Felder, in denen vorhandene Ladungsträger in der Gasphase ordentlich Bewegungsenergie bekommen. Aber aus den genannten Gründen findet man diesen Aggregatzustand eben nicht einfach mal so auf der Straße oder im Wald, wohingegen die drei anderen Zustände allgegenwärtig sind. Wenn wir jedoch bei Tag in den Himmel zur Sonne schauen, können wir diesen Zustand ständig bewundern und uns seiner tollen Eigenschaften erfreuen, denn die Sonne ist heiß genug. Heiß genug, um durch ihre Strahlung auch unsere zu einem geliebten Schneemann aufgetürmten 1,3 Quadrilliarden Wassermoleküle vollständig in die Gasphase zu überführen.

Nun noch zur Namensgebung. Anstatt die Zustände einfach durchzunummerieren, hat man ihnen ja großartige Namen gegeben, so nennt man den vierten Aggregatzustand Plasma. Wir haben also: Feststoff, Flüssigkeit, Gas und Plasma. Wenn man ganz pingelig sein will, könnte man in diesen einzelnen Zuständen noch kleinteiligere Unterscheidungen machen, da sprechen wir dann von sogenannten „Phasen“. Wir wollen jetzt aber mal nicht pingelig sein.

Was sind die neuen, anderen physikalischen Eigenschaften des Plasmas?

Kersten: Das ist wirklich sehr spannend. Man könnte nun sagen, okay, anstatt nur neutraler Teilchen, befinden sich nun auch noch einige geladene Teilchen in der Gasphase – so what? Was macht gerade diese Tatsache so besonders? Man muss auch ganz klar betonen, nur, weil sich eventuell ein paar geladene Teilchen in der Luft befinden – und das tun sie tatsächlich ständig in geringen Konzentrationen, bedingt durch die natürliche Radioaktivität und kosmische Hintergrundstrahlung – haben wir es natürlich nicht sofort mit einem Plasma zu tun. Genauso wie bei den klassischen drei Aggregatzuständen die Teilchen ein ganz charakteristisches Kollektivverhalten zeigen – zum Beispiel fließen 1,3 Quadrilliarden Wassermoleküle zusammenhängend über den Boden – spricht man auch erst von einem Plasma, wenn die Konzentration an geladenen Teilchen, deren Energie und deren mittlerer Abstand so perfekt abgestimmt sind, dass sich wirklich ein kollektives Verhalten bemerkbar macht. So wie die kollektive Form- und Volumenstabilität bei den drei anderen Zuständen Kriterien für die Einordnung waren, gibt es auch beim Plasma Kriterien zur Einordnung, allerdings sind diese nicht ganz so einfach zu erkennen.

Ein Kriterium ist zum Beispiel, dass die Konzentration an freien Elektronen und positiven Ladungen in dem Stück Materie einen bestimmten Wert erreichen und für beide Sorten nahezu gleich sein muss. Wenn dies erfüllt ist und man jetzt nämlich von außen diesen mit Materie gefüllten Raum betrachtet, erscheint er als „quasi“ neutral. Also obwohl so viele freie Ladungsträger herumfliegen, heben sich die Kräfte der Ladungen über den gesamten Raum betrachtet gegenseitig auf und das Plasma erscheint nach außen hin als nahezu „nicht“ geladen. Ist doch blöd, mag man jetzt denken, was hat man denn nun davon, wenn es nach außen hin wieder neutral ist? Das Coole ist aber, dass dieses „Gebilde“ nun als eine Einheit auftreten kann. Stellen wir uns vor, wir wären in der Lage, die sehr leichten Elektronen in diesem Gas kurzzeitig nach rechts oben in die Ecke auszulenken. Die viel, viel schwereren positiven Ionen sind zu träge, um denen so schnell zu folgen. Was haben wir jetzt angestellt? Wir haben auf einmal eine große Menge an Ladungen räumlich voneinander getrennt und damit unheimlich starke Rückstellkräfte in dem Gas initiiert, die die negative Wolke mit einem ordentlichen Schwung wieder zurückholen will, denn positiv und negativ ziehen sich ja an. Im Endeffekt fängt die Elektronenwolke an, um die positiven Ionen hin und herzuschwingen. Es ist sehr vergleichbar mit einem Pendel, das man ausgelenkt hat und schwingen lässt. Man spricht auch davon, dass das Plasma eine Eigenfrequenz besitzt, nämlich wie oft pro Sekunde diese Elektronenwolke hin- und herschwingt. Das ist jetzt nicht nur eine theoretische Betrachtung, sondern passiert ganz real ca. 100 Kilometer über unseren Köpfen in der Ionosphäre.

Wie der Name schon vermuten lässt, befinden sich in dieser Schicht um unseren Planeten sehr viele freie Ladungsträger. Die harte Strahlung der Sonne ionisiert die dort befindlichen Moleküle (hauptsächlich Sauerstoff und Stickstoff). Diese Schicht ist also eine Art Schutzschicht für das Leben auf dieser Erde, denn würde die harte Strahlung nicht abgefangen werden, hätte nicht nur der Schneemann ein Problem. Diese Ionosphäre erfüllt relativ gut die Plasmakriterien und zeigt genau das erwartete kollektive Verhalten, zum Beispiel diese Plasmaoszillationen. Das hat starke Auswirkungen auf den Funkverkehr: Elektromagnetische Strahlung im Radiofrequenzbereich (MHz) ist in der Lage mit den hin- und herschwingenden Ladungswolken der Ionosphäre zu wechselwirken. Das äußert sich dahingehend, dass zum Beispiel die Kurzwelle besonders gut an der Ionosphäre einfach zurück auf die Erde reflektiert werden kann und damit als Raumwelle weite Strecken überbrücken kann.

Eine Eigenschaft der meisten Plasmen möchte ich an dieser Stelle besonders herausstellen und zwar das Leuchten. Geben Sie mal „Plasma“ bei der Google-Bildersuche ein und ihnen werden ein Haufen farbenfroher und leuchtender Fotos angezeigt. Auch wenn ich schon viele Plasmen gesehen habe und diese Leuchterscheinungen manchmal tatsächlich für die eigentliche Anwendung nebensächlich sind, erfreut es mich immer wieder sie zu sehen.

Uwe Blass

Dieses und weitere „Jahr100Wissen“-Interview lesen Sie hier.


Dr. Hendrik Kersten studierte Lebensmittelchemie (nicht bis zum Ende) und Chemie an der Universität Bonn und an der Universität Wuppertal und promovierte 2011 im Bereich massenspektrometrischer Analysenmethoden für atmosphärenchemische Prozesse (Wuppertal und Kelowna/Kanada). Seit 2011 arbeitet er in der Fachgruppe Physikalische und Theoretische Chemie der Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften. Zu seinen Forschungsbereichen gehören viele Themen rund um die Massenspektrometrie und die Charakterisierung und Verwendung von Plasmen (Habilitationsschrift hierzu ist in Bearbeitung).

Weitere Infos über #UniWuppertal: