„Jahr100Wissen“: Die Einführung der Grundschule – ein langwieriger, politischer Kampf
Frau Kastens, am 28. April 1920 wurde durch das Reichsgrundschulgesetz erstmalig die bis dato benannte Volksschule oder Elementarschule als Grundschule für alle Kinder eingeführt. Aus welchem Grund entschied man sich dafür?
Kastens: Man hat sich nicht entschieden. Es war ein langes, politisches Ringen zwischen konservativen und sozialdemokratischen und linken Parteien. Wie bei so vielen anderen Themen auch, bot sich in den Wirren der 1920er Jahre eine vielleicht einmalige historische Gelegenheit. Und der Kompromiss dieser politischen Kämpfe war dann die Einführung der vierjährigen, nicht wie eigentlich geplant sechsjährigen, Grundschule, die mit der Auflösung der Volksschulen und der Vorschulen der Gymnasien und der Realschulen einherging. Die erste Idee einer Schule „für alle Kinder“ hatte aber schon Comenius (Johann Amos Comenius, tschechischer Philosoph und Pädagoge, Anm. d. Red.) im 16. Jahrhundert. Eine Schule, die nicht unterscheidet nach Stand, Beruf und finanziellen Möglichkeiten des Elternhauses, sondern eine Schule, in der alle Kinder gemeinsam dasselbe lernen können. Auch Wilhelm von Humboldt hatte schon für die Einführung einer sogenannten Elementarschule, die dem Gymnasium vorangestellt wird, plädiert. Alle Kinder sollten unabhängig vom Elternhaus und ihrer Konfessionszugehörigkeit, eine Grundbildung, eine Allgemeinbildung erhalten. Es hat dann eben noch fast ein Jahrhundert gedauert, bis es zumindest für die ersten vier Schuljahre eine gemeinsame Schule für alle Kinder geben konnte.
Mit der Einführung der Grundschule war auch die Verwirklichung der Einheitsschule angedacht. Warum scheiterte dieser Versuch zumindest in Bezug auf die weiterführenden Schulen?
Kastens: Die Grundschule war ja schon ein Kompromiss. Und bis heute, wenn man sich die politischen Kämpfe zur Einführung von Gemeinschaftsschulen und Stadtteilschulen anschaut – jedes Bundesland hat da ja seine eigenen Konzepte – war selbst dies oft mit vielen Widerständen verbunden. An die Auflösung des Gymnasiums traut sich bis heute kein Kultusministerium mehr heran. Die Widerstände bei der Verwirklichung einer Einheitsschule, damals bis heute, sind nach wie vor dieselben. Es ist die Sorge des Bildungsbürgertums, dass eine Schulform, in der Kinder mit unterschiedlichen Leistungs- und Wissensständen sowie möglicherweise unterschiedlichen Kompetenzen und Hintergründen gemeinsam Lernen zur Folge hat, dass die Qualität sinkt. Die Sorge also, dass die Guten nicht ausreichend gefördert werden und die Schlechten zu viel Ressourcen, zu viel Aufmerksamkeit der Lehrkräfte auf sich ziehen. Positiver ausgedrückt steckt dahinter die Überzeugung: Je früher man jedem Kind den Unterricht und die Schule angedeihen lässt, die am besten auf die jeweiligen Kompetenzen und Bildungsperspektiven passt, umso besser.
Wir wissen jedoch, dass dies so gar nicht stimmt und diese Art der Selektion sogar negative Effekte haben kann, beispielsweise, wenn sich in leistungsschwachen Schulen eine Kultur der Anspruchslosigkeit festsetzt. Wie gut Kinder lernen hängt insbesondere von der Qualität des Unterrichts und den Kompetenzen der Lehrkräfte ab. Da mag es gefühlt schwieriger sein, sich auf eine heterogene Schülerschaft einzustellen. Vielen Lehrkräften gelingt dies aber sehr gut.
Für die neu eingeführte vierjährige Grundschule werden detaillierte Richtlinien aufgestellt. Welche waren das zum Beispiel?
Kastens: Zeitgleich mit den Bemühungen, eine Grundschule für alle Kinder zu etablieren, hat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch die Reformpädagogik entwickelt. Mit der Einführung der neuen Schulform war dann die Gelegenheit da, Schule neu zu strukturieren und alles in Frage zu stellen, was bisher an Unterrichtsideen vorherrschte. Das zentralste Prinzip ist zum einen wahrscheinlich der Anspruch einer Pädagogik, die „vom Kind aus“ denkt und zum anderen das Ganzheitsprinzip, also das Lernen mit Kopf, Herz und Hand passieren soll, also „alle geistigen und körperlichen Kräfte der Kinder zu wecken und zu schulen“.
Vom Kind ausgehend haben wir nun eine Pädagogik, die respektiert und schaut, dass sich Kinder auf eine bestimmte Art und Weise entwickeln, dass sie bestimmte Lernräume brauchen. Die erstarkende Erlebnispädagogik betont, dass Unterricht erfahrungsbasiert sein soll. Im Lehrplan fand sich dann das neue Fach „Heimatkunde“. Aber auch Selbsttätigkeit, Freiheit und Selbstverantwortung des Lernens werden als bedeutsame Themen entdeckt, Schule und Unterricht mussten demnach ganz anders gedacht werden. Weg vom Lehrer, der vor einer Klasse mit bis zu 100 Schülern steht, die im Gleichschritt auswendig Gelerntes aufsagen.
Zudem haben sich andere Ideen für das Zusammenleben in Schule entwickelt und wurden mit der neuen Schulform aufgegriffen. Bis heute gilt in der Grundschule bspw. das Klassenlehrerprinzip und nicht das Fachlehrerprinzip. An Grundschulen haben wir die Situation, dass die Kinder in einem Klassenverband mit einer Vertrauensperson sind, die Lehrperson also die Klasse in einer Art Familienstruktur führen soll. Das Feiern von Festen ist nicht nur wichtig, weil man meint, dass Kinder so gerne feiern, sondern die Schule wird im pädagogischen Ideal als Lebensraum und -gemeinschaft verstanden. Diese Haltung zeigt sich auch in der Ausgestaltung der Klassenräume, Grundschullehrkräfte neigen dazu, sich hier viel mehr Gedanken zu machen als ihre Kolleginnen und Kollegen an weiterführenden Schulen.
In der Grundschule soll nicht so sehr die Wissensvermittlung im Vordergrund stehen als vielmehr das Bemühen, „alle geistigen und körperlichen Kräfte der Kinder zu wecken und zu schulen“. War das ohne neugeschulte Lehrer*innen überhaupt möglich?
Kastens: Nein! Eine der treibenden Kräfte zur Gründung der Grundschule waren die sogenannten Lehrerverbände. Hier waren die Volksschullehrkräfte organisiert. Diese forderten sowohl die Gründung einer neuen Schulform und damit einhergehend eine Aufwertung und Neustrukturierung der Ausbildung, die manchmal gar nicht vorhanden war, und eine bessere Bezahlung. Beides ist heute noch aktuell. Wertgeschätzt werden nicht die hohen bildungswissenschaftlichen Anteile des Studiums für das Grundschullehramt und damit einhergehenden Kompetenzen, stattdessen werden die geringeren fachwissenschaftlichen Anteile des Studiums als Begründung für „weniger Kompetenz“ herangezogen. Selbst mit der Einführung des Bachelor- und Masterstudiengangs. Grundschullehrkräfte haben den gleichen Abschluss, die gleiche Regelstudienzeit wie alle anderen Lehramtsstudierenden, aber die Eingruppierung in das Beamtenverhältnis ist nach wie vor mit A12 schlechter. Wobei dies in NRW auch die Haupt- und Realschullehrkräfte betrifft.
Bildungsexpert*innen fordern immer wieder die Einführung einer sechsjährigen Grundschule, da sich die frühe Selektion nachteilig auf Kinder mit Migrationsgeschichte auswirke. Was halten Sie davon?
Kastens: Wir haben tatsächlich viele empirische Hinweise darauf, dass Kinder mit Migrationshintergrund teilweise andere, schlechtere Leistungsentwicklungen aufweisen, aber auch systematisch benachteiligt zu werden scheinen, wenn es um die Übergangsempfehlung geht; dass sie trotz vorhandener Kompetenzen oder bei ähnlich ausgeprägten Leistungen keine Gymnasialempfehlung erhalten. Die Verlängerung um eine sechsjährige statt vierjährige Grundschulzeit würde ein späteres Selektieren bedeuten. Es stellt sich dann aber weiterhin die Frage, warum man überhaupt zu einem relativ frühen Zeitpunkt in der Bildungsbiographie von Kindern schon Prognosen darüber anstellen muss, wo deren Bildungsbiographie enden soll. Aber was macht eigentlich diese Selektion? Wie gut gelingt sie? Geht es wirklich um eine Bestenauslese und was soll die bringen? Kann sich nach zwei weiteren Jahren besser herauskristallisieren, wer die Besten sind?
Die Idee der Humboldt’schen Elementarschule und auch des „Gymnasiums für alle“, bestand in der festen Überzeugung, dass auch der Tischler eine Allgemeinbildung und Kenntnisse, sagen wir im Griechischen Drama, braucht. Zur Menschwerdung brauche es Bildung. Tatsache ist, dass die Selektion – insbesondere die Gymnasialempfehlung – nach wie vor stark vom sozialen Hintergrund der Kinder abhängig ist. Und die Chance, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten für Kinder mit Migrationshintergrund und insbesondere aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien, im Schnitt geringer ist. Ich bezweifle, dass eine sechsjährige Grundschule diese Problematik ohne weitere Maßnahmen lösen würde.
Ein bundesweiter Leistungsvergleich von Grundschulen hat 2012 gezeigt, dass die soziale Herkunft immer noch starken Einfluss auf den Lernerfolg der Kinder hat. Kann man das ändern?
Kastens: Internationale Vergleichsstudien zeigen immer wieder, dass die Kopplung zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg für Deutschland im Vergleich zu allen anderen OECD-Ländern (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Anm. d. Red.) nach wie vor sehr stark ist. Man muss unterscheiden zwischen sogenannten primären und sekundären Herkunftseffekten, also einerseits weisen Kinder aus bestimmten Familien tatsächlich ungünstigere Lernentwicklungen auf, Kinder aus solchen Familien kennen vielleicht bestimmte Strategien zum Lernen nicht, oder die Eltern schaffen andere Anregungen, so dass die Kinder dann auch unterschiedlich viel können. Andererseits gibt es selbst bei ähnlichen Leistungsentwicklungen unterschiedliche Bildungsentscheidungen und -empfehlungen.
Man muss sich fragen, ob die Grundschule dem Bildungsauftrag, eine Schule für alle zu sein und Chancengleichheit herzustellen, tatsächlich gerecht wird. Was läuft schief, wenn Kinder mit einem bestimmten sozialen Hintergrund oder einer bestimmten Herkunft manchmal trotz guter Lernerfolge trotzdem benachteiligt, beispielsweise schlechter bewertet werden? Welche Rolle spielen die Gymnasien und deren Fähigkeit, Bildungskarrieren positiv zu unterstützen? Vielleicht haben die Grundschullehrkräfte ja recht, wenn sie bestimmte Kinder nicht auf das Gymnasium empfehlen, wenn sie davon ausgehen müssen, dass diese dort scheitern werden. Manchmal hört man das Argument, dass unser Schulsystem ja durchlässig sei, man auch später das Abitur oder jeden anderen Abschluss nachholen kann. Aber die Daten zeigen, dass dies eher selten passiert. Und wenn, ist es oft auch mit einem weiteren Scheitern verbunden. Vielleicht hat sich die Grundschule hier aber auch zu viel vorgenommen, was eigentlich nur zu schaffen ist, wenn nicht alle Teile des Systems ineinandergreifen. Was ja eigentlich mit der Gründung der Einheitsschule passieren sollte.
Frau Kastens, Sie leiten den Arbeitsbereich „Grundschulforschung“ am Institut für Bildungsforschung an der Bergischen Universität. Was hat sich 100 Jahre nach Einführung der Grundschule im Wesentlichen verändert?
Kastens: Ich möchte die Grundschule gerne als Leuchtturm in der Bildungslandschaft beschreiben, der gerne noch heller in andere Schulformen ausstrahlen könnte. Insbesondere was die Idee einer gemeinsamen Schule angeht. Die Ängste sind aber trauriger Weise immer noch dieselben. Wenn man sich die Argumente der Lehrkräfte, Politiker aber auch Elternschaft anschaut, die vor 100 Jahren dagegen waren, die Grundschule als „Schule für alle“ einzuführen, dann hört man diese noch heute, wenn gemeinsames Lernen gefordert wird: „die Leistungsstarken werden ausgebremst“, „die Durchmischung ist nicht gut“, „der Bildungsstandard sinkt“ oder „man darf auch die Leistungsschwachen nicht überfordern“. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts waren es noch die Schustersöhne, die nicht mit den Medizinersöhnen die Schulbank drücken sollten. Viele Kinder mit Migrationsgeschichte an einer Schule lösen bei manchen nach wie vor Sorge um den Bildungserfolg des eigenen, eigentlich privilegierten Nachwuchses aus, 2015 waren es die geflüchteten Kinder, die auf Grund ihrer Sprachdefizite nicht am regulären Unterricht teilnehmen sollen, aber auch der Inklusion wird mit ähnlichen Argumenten entgegengetreten.
Aber um noch einmal auf den Leuchtturm zurückzukommen. Die Grundschulen, die Grundschullehrkräfte, sind in unserem Schulsystem die ersten, die sich allen Kindern annehmen, und diejenigen, die sich den teilweise großen Unterschieden zwischen den Kindern stellen. Sie müssen immer wieder neu überlegen, wie sie Unterricht und den Schulalltag gestalten, um jedem Kind individuell gerecht zu werden, um allen möglichst gute Startbedingungen zu verschaffen. Und das in relativ kurzer Zeit. Kinder bringen eine sechsjährige Prägung aus dem Elternhaus, manchmal auch aus dem Kindergarten mit. Und dann haben die Lehrkräfte vier Jahre Zeit, um die nachfolgenden acht oder neun Jahre Schulkarriere vorzubereiten. Also vier Jahre um alles, was möglicherweise sechs Jahre schiefgelaufen ist, zu korrigieren und um alles, was danach kommen soll, vorzubereiten. Und dafür machen die einen sehr, sehr guten Job.
UWE BLASS
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Prof. Dr. Claudia Kastens studierte Psychologie an der technischen Universität Braunschweig und promovierte 2009 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seit 2013 ist sie Professorin für Grundschulforschung am Institut für Bildungsforschung an der School of Education der Bergischen Universität Wuppertal.