Jahr100Wissen: Die Entwicklung der Zwölftontechnik
1920 bricht Arnold Schönberg die Regeln der Harmonielehre mit der Entwicklung der Zwölftontechnik. Was war das Neue daran?
Erlach: Zunächst muss man sagen, dass die Regeln der Harmonielehre immer einem Veränderungsprozess unterworfen gewesen sind. Es gibt keine zeitlose Harmonielehre. Schon zum Ende des 19. Jahrhunderts erweiterte sich die Tonalität, also die verwendeten Harmonien erheblich, insbesondere durch die stärkere Verwendung von Dissonanzen, also Klängen, die landläufig als unschön empfunden werden – diese wurden von den Komponisten ab jetzt viel häufiger verwendet als früher. Schönberg hat sich dann in zwei Schritten von der bisherigen Harmonielehre befreit. Um ca. 1908 gab es eine erste Phase der sogenannten freien Atonalität, in der Schönberg vom herkömmlichen Regelwerk abgewichen ist und vor allen Dingen sehr kurze Stücke geschrieben hat, die für die Zuhörer chaotisch und provozierend wirkten. Es kam zu Konzerten, wo das Publikum sich in sehr heftigen, emotionalen Reaktionen sogar geohrfeigt hat.
Im zweiten Schritt, der sich in den 20er Jahren vollzog, entstand dann tatsächlich die Entwicklung einer neuen Ordnung in der Musik durch die Zwölftonmusik. Das Besondere daran ist, dass es keinen Grundton mehr gibt, also einen Ton der Tonleiter, der besonders wichtig ist. Alle zwölf Töne, die es gibt – c, cis, d, dis etc. – sind gleich wichtig. Das hat Schönberg so organisiert, dass er Reihen angelegt hat, die aus allen diesen zwölf Tönen bestanden. Und keiner dieser zwölf Töne durfte wiederkommen, bevor nicht alle anderen elf erklungen waren. Also ein Verfahren, was man als etwas mathematisch empfinden kann, das aber eigentlich nicht so gemeint war. Schönberg hat auch diese Musik als Ausdrucksmusik verstanden und wollte damit durchaus Emotionen transportieren, aber beruhend auf einer anderen Ordnung als der herkömmlichen.
Ein Jahr später komponierte Schönberg mit dem „Präludium der Klaviersuite op. 25“ das erste Stück in der von ihm entwickelten Zwölftontechnik, die am 25. Februar 1924 im Wiener Konzerthaus erstaufgeführt wurde. Wie reagierte das Publikum auf diese neue Musik?
Erlach: Es ist gar nicht sicher, dass dieses Stück wirklich das erste Zwölftonstück war, denn Schönberg hatte mehrere Konkurrenten, die gleichzeitig an dieser Entwicklung der Musiktechnik arbeiteten. Einer dieser Konkurrenten hieß Josef Matthias Hauer. Beide Komponisten behaupteten von sich, dass sie jeweils als erste dieses Verfahren erfunden hätten. Das ist bis heute nie so richtig geklärt worden. Hauer war wohl tatsächlich etwas früher dran, aber Schönberg ist derjenige, der bekannter geworden ist und internationale Resonanz gefunden hat.
Die Publikumsreaktionen muss man sehr differenziert betrachten. Es gab nicht mehr, wie um 1910 herum, eine so heftige, emotionale Reaktion. Das Publikum teilte sich auf. Einerseits gab es Experten, die sich zu dieser Avantgarde hingezogen fühlten und diese Musik auch als zukunftsweisend angesehen haben. Schönberg hatte hierfür einen eigenen Verein in Wien, den Verein für musikalische Privataufführungen, wo eben diese Dinge im kleinen Kreis zunächst vorgespielt wurden. Es war dort verboten zu applaudieren oder zu zischen. Man sollte in einen fachlichen Austausch treten. Gleichwohl ist es aber so, dass der größere Teil des Publikums diese Musik eigentlich nicht angenommen hat.
Seit dieser Zeit haben wir eine Trennung zwischen Avantgardepublikum und normalen Klassikhörern. Schönberg wurde von verschiedener Seite kritisiert: Den einen war er zu fortschrittlich, den anderen galt er damals schon als reaktionär. Hans Eisler hat ihn z. B. kritisiert und als nicht weit genug gehend beschrieben.
Die Hörweisen der Hörer*innen sowie der Komponist*innen waren durch eine traditionelle Musiksprache geprägt. Dadurch wirkte die Musik der neuen Zwölftontechnik fremd und für viele Hörer*innen erschreckend. Wie konnte sich diese so komponierte Musik dennoch durchsetzen?
Erlach: Es ist vergleichbar mit der Abstraktion in der Malerei, die etwa durch Kandinsky aufkam. Da war es auch so, dass es zunächst verschiedene Reaktionen gab. Der Nationalsozialismus spielt eine große Rolle in dieser Hinsicht, weil Schönberg als „entartet“ galt – nicht nur, weil er Jude war, sondern auch wegen dieser neuen Art zu komponieren. Das hat die Rezeption speziell in Deutschland zunächst einmal erheblich gedämpft. Die Gründe, dass sich solche Kunst durchgesetzt hat, liegen sicherlich daran, dass irgendein Nerv getroffen wurde. Bestimmte Erfahrungen, die für diesen Zeitabschnitt des 20. Jahrhunderts typisch sind. So etwas wie Verlust von kultureller Geborgenheit. Auch die Weltkriege, der politische Extremismus – das sind alles Dinge, die in der Kunst verarbeitet wurden.
Als Ideal wurde eigentlich nicht mehr die Schönheit angesehen, sondern eher die Wahrheit von Kunst. Das hat auch Adorno sehr stark propagiert. Er hat die Zwölftonmusik stark unterstützt, weil es ihm um Wahrheit in der Kunst ging. Und diese Musik spricht das aus, was dem Lebensgefühl und den Ereignissen der Zeit vielleicht am ehesten nahekommt. Das war damals eine Richtung, die eher von einer Gruppe von Künstlern und Intellektuellen ausging, die sich in der Minderheit befand, und das änderte sich erst nach dem zweiten Weltkrieg.
Schönberg emigrierte 1933 in die USA. Von dort aus beginnt die Entwicklung der Zwölftontechnik. Wann kam die Welle nach Deutschland?
Erlach: Nach 1945. Schönberg hat sich trotz seiner Emigration weiter als Deutscher gefühlt. Er ist zwar nicht aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrt, aber es gibt von ihm die Aussage, dass er die Zwölftonmusik als eine Errungenschaft der deutschen Musik angesehen hat, die ihr für die nächsten hundert Jahre die Vorherrschaft sichern würde. Nach dem Krieg hat sich diese Musik durch den Schülerkreis von Schönberg weiterentwickelt.
Die Zwölftontechnik hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Musik der Moderne und der Avantgarde gehabt. Welche waren das zum Beispiel?
Erlach: Schönberg hat einen großen Schülerkreis gehabt, insbesondere Alban Berg und Anton Webern sind da zu nennen. Das Neue ist, dass die Musik auf einer neuen Ordnung beruht, die nicht mehr die traditionelle Ordnung der Harmonielehre war. Zugleich hat Schönberg ältere Formen und Satzbezeichnungen beibehalten. Alt und neu in neuer Mischung. Und das war nach dem Krieg interessant. Die Dissonanz galt nicht mehr als minderwertig gegenüber wohlklingenden Harmonien. Manche glaubten, dass dieses neue Regelwerk bereits die eigentliche Zwölftonmusik sei, doch das war ein Missverständnis. Die Zwölftonmusik ist nicht das Regelwerk, sondern die individuellen Kompositionen, die daraus entstehen. Und daran haben die Schüler Schönbergs stark angeknüpft.
Sie haben Alban Berg und Anton Werbern genannt, wie entwickelte sich die Zwölftontechnik durch sie dann weiter?
Erlach: In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Zwölftontechnik im Grunde auf alle musikalischen Bereiche übertragen. Man nennt das den Serialismus. Der Serialismus ist eine Kompositionsweise, in der nicht nur die Tonhöhen in Reihen angeordnet werden, sondern auch alle anderen Eigenschaften von Tönen: Die Lautstärke oder die Art und Weise, wie ein Ton angeschlagen oder gespielt wird – also staccato oder legato – und auch der Rhythmus. Es wurde sozusagen alles durchorganisiert. Das ist der Serialismus, der sich mit Namen wie Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen verbindet, die sich wiederum an Anton Webern orientierten und das ganze radikalisiert haben. Diese Tendenz hat sich dann irgendwann auch erschöpft. Aber es ist die logische Fortsetzung der Zwölftonmusik.
Herr Erlach, Sie leiten das Archiv für Musiktheater für Kinder und Jugendliche. Wie groß ist da der Anteil an Zwölftonmusik?
Erlach: Eher klein. Die Stücke im Archiv unterscheiden sich in solche Stücke, die von Kindern aufgeführt werden können und solche, die für Kinder gespielt werden. Bei den von Kindern aufgeführten Stücken ist es quasi unmöglich, Zwölftonmusik zu schreiben, weil die sehr schwer umzusetzen ist. Bei den Werken, die für Kinder gespielt werden, gibt es das ein oder andere Stück. Ich habe noch einmal recherchiert: Es gibt zum Beispiel ein Kindermusiktheaterstück von Theodor W. Adorno über einen Indianerstoff, das dann auch Zwölftonelemente enthält. Es ist aber kaum bekannt. Man kann sagen, die freiere Tonalität kommt schon beim Kindermusiktheater vor, Zwölftonmusik im strengen Sinne eher nicht.
Uwe Blass
Prof. Dr. Thomas Erlach ist seit 2014 Professor für Didaktik der Musik an der Bergischen Universität.