„Jahr100Wissen“: Die Geschichte(n) von Tarzan
Die insgesamt 24 Bände umfassende Reihe „Tarzan“ stammt von Edgar Rice Burroughs. Ihr Held ist selbst 100 Jahre nach Erscheinen noch immer bekannt. Woran liegt das?
Meyer: Burroughs hat eine ungeheuerliche, auch heute noch spannend zu lesende Entwicklungsgeschichte geschrieben, mit der er Liebe, Abenteuer, Lebensgefahr verbindet. Wir haben es folglich mit einem Genre-Mix zu tun, der von vielem etwas bietet und folglich eine breite Leserschaft anspricht. Dazu kommt, dass Burroughs vor allem im ersten Tarzan-Roman, Tarzan by the Apes, höchst markante Situationsbilder liefert: ein muskelbepackter Mann, der sich an Lianen durch den Urwald schwingt, der eine schöne Frau an seine unbekleidete Brust gedrückt herumträgt, der mit Affen spricht – dies sind Szenen, die im Roman ausführlich beschrieben werden und die auch für alle bildlichen Darstellungen, sei es im Comic oder in den mehr als einhundert (!) Verfilmungen, zentral sind. Inklusive des Tarzan-„Jodlers“, der spätestens durch Johnny Weissmüllers Verkörperung auch zu einer akustischen Signatur der Gestalt geworden ist. Sie hat also einen hohen Wiedererkennungswert, wozu auch der wohlgestaltete, in weiten Teilen des ersten Tarzan-Romans auch als nackt beschriebene Körper des Titelhelden sicher beiträgt. Erschienen Anfang des 20. Jahrhunderts, also in einer Zeit verhältnismäßig großer Prüderie, war dies sicherlich für eine breite Leserschaft attraktiv und ist es auch noch in unserer körperbetonten Gegenwart.
Am 20. Juni 1921 erscheint als 8. Band der Tarzan-Reihe der Roman „Tarzan der Schreckliche“. Darin trifft Tarzan auf Monster der grauen Vorzeit und zähmt ein riesiges Ungeheuer, das sogenannte Gryf. Was fasziniert den Leser an solch einer Parallelwelt?
Meyer: Es ist ein Kennzeichen fantastischer Literatur, gewohnte Alltagswahrnehmungen zu überschreiten oder zu verfremden. Etwas Außergewöhnliches wird erkennbar. Es gibt Theorien, denen zufolge fantastische Literatur vor allem in Umbruchzeiten gefragt ist. Dies könnte man auch von den ersten Tarzan-Bänden sagen. Meine Theorie hierzu lautet, dass die umfassende Technisierung, Globalisierung, Industrialisierung, Kolonisierung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts alle westlichen Staaten tiefgreifend geprägt hatte, die Sehnsucht nach Natur, nach deren Geheimnissen, nach einer „wilden“ Gegenwelt in besonderer Weise befördert hat.
Im angelsächsischen Sprachraum ist das Werk Burroughs ein absoluter Klassiker der Fantastik. In Deutschland hat er diesen Status nicht erreicht. Woran liegt das?
Meyer: Auch in Deutschland ist Tarzan populär, allerdings weniger in Romanform denn als Comic oder Film. Dies hat damit zu tun, dass vor allem der erste Roman letztlich eine Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus ist: Tarzans Eltern, die als Stellvertreter der englischen Krone gleich zu Beginn des ersten Romans eingeführt werden, können in dem gefährlichen Dschungel nicht überleben, den sie doch eigentlich als überlegene Europäer beherrschen sollten. Tarzan wächst dort unter Affen auf und verkörpert dadurch eine Utopie, nämlich die Versöhnung von Mensch und Natur. Der Mensch ist Freund oder doch wenigstens ein fairer Gegner des Tieres, lebt mit diesem in Einklang und nimmt sich nur, was er zum Überleben braucht.
Tarzan ist aber sehr deutlich auch als Engländer gestaltet, als Adliger. Immer wieder ist in den Romanen davon die Rede, dass er den Charakter eines wahren Gentlemans nicht verleugnen könne, dieser ihm angeboren sei. Doch zieht es ihn auch immer wieder nach Afrika zurück. Aus angelsächsischer Perspektive geht es folglich nicht nur um eine spannende Geschichte, sondern auch um die Auseinandersetzung mit einem Selbstbild. Diese Rezeptionsebene fehlt im deutschsprachigen Raum völlig. Egal, wie widrig die Umstände sind, der weiße Herrenmensch, der englische Lord, überlebt und sorgt für Recht und Ordnung. Dies ist die unterschwellige, aber doch deutlich vernehmbare Botschaft der Tarzan-Romane.
Die Figur Tarzan gehört in die Gruppe der sogenannten Wolfskinder, also Menschen, die in ihrer Jugend eine Zeit lang isoliert von anderen Menschen aufwuchsen. Rührt der Heldenstatus daher, dass ihn Leser*innen mit keinem realen Menschen vergleichen können?
Meyer: Tatsächlich kann Burroughs für seine Tarzan-Romane auf eine lange literarische Tradition zurückgreifen: Beginnend bei Romulus und Remus über Wolfdietrich, Titelheld des gleichnamigen mittelhochdeutschen Heldenepos, und Mowgli aus „The Jungle Book“ von Rudyard Kipling aus dem Jahr 1894. Spannend speziell an Burroughs Romanen ist, dass er mit Tarzan eine Gestalt geschaffen hat, die zwar einerseits übermenschlich stark erscheint und auch über einen außergewöhnlich edlen Charakter verfügt, die aber andererseits auch ganz menschlich ist und in ihrer anfangs ganzen körperlichen und geistigen Schwäche gezeigt wird. Er ist also beides: ein letztlich unbezwingbarer, edelmütiger Held und jemand, der das, was man herkömmlicherweise unter „Kultur“ versteht, erst kennenlernen muss. Die mit dieser Konstellation verbundenen Themen erweisen sich als zeitlos: der Umgang mit der eigenen Andersartigkeit in einer zunächst fremden Gruppe, Prozesse der Individualisierung und Kultivierung, der Umgang mit den eigenen Stärken und Schwächen.
Die Geschichte von Tarzan ist sowohl als Serie und Comicverfilmung umgesetzt worden als auch mehrere Male als Realfilm – zuletzt 2016 – in den Kinos gelaufen. Warum interessieren wir uns auch nach 100 Jahren noch immer für einen laut jodelnden, lianenschwingenden Affenmenschen im Lendenschurz?
Meyer: In den Tarzan-Romanen werden viele Themen verarbeitet, die auch heute noch von großem Interesse sind: unser Verhältnis zu Natur und Kultur etwa, Möglichkeiten des Überlebens in der „Wildnis“ und unser Vertrauen in die eigenen Kräfte. Auch das Verhältnis von Mensch und Tier – in den meisten Tarzan-Romanen als überwiegend harmonisch gestaltet – ist heute sogar noch aktueller als vor hundert Jahren. Tarzan lässt sich auch den im wahrsten Wortsinn starken Charakteren zuordnen, von denen wir nicht genug bekommen können: Rambo, dem Terminator, Superman… Wollen wir nicht alle wenigstens ein klein wenig sein wie sie?
Uwe Blass
Das vollständige „Jahr100Wissen“-Interview lesen Sie hier.
Prof. Dr. Anne-Rose Meyer studierte Allgemeine und Angewandte Sprachwissenschaft, Neuere Germanistik und Romanistik an der Universität Bonn und promovierte ebenda im Jahr 2000. Meyer habilitierte sich 2009 an der Universität Paderborn. 2018 wird sie zur apl. Professorin an der Bergischen Universität ernannt. Hier lehrt sie Neuere deutsche Literatur in der Fakultät für Geistes- und Naturwissenschaften.