„Jahr100Wissen“: Die Operette der 20er Jahre – Eine anziehende Mischung aus Humor und schöner Musik
„Der Vetter aus Dingsda“ von Eduard Künneke wurde am 15. April 1921 in Berlin uraufgeführt. Worum geht es in dieser Operette?
Erlach: Wie bei vielen Operetten dreht es sich um das Thema einer Eheanbahnung mit Verwicklungen. Wir haben es hier mit einer Hauptfigur namens Julia de Weert zu tun, die auf einem holländischen Schlösschen lebt und seit sieben Jahren auf ihren verschollenen Vetter und Verlobten Roderich wartet, der ihr die Treue geschworen hat, dann aber nach Batavia verschwunden ist, einer Stadt in der damaligen Kolonie Niederländisch-Ostindien, das heutige Jakarta. Die Stiefeltern, bei denen Julia lebt, sind allerdings ganz anderer Auffassung bezüglich ihrer ehelichen Zukunft und haben einen anderen Vetter mit dem wenig reizvollen Namen August Kuhbrot für sie vorgesehen, damit das reiche Erbe, dass Julia mitbringt, in der Familie bleibt. Im Laufe der Handlung tauchen dann zwei fremde Männer auf. In den einen, angeblich ein „armer Wandergeselle“, verliebt sich Julia erstaunlicherweise sofort. Dadurch entsteht ein dramatischer Konflikt zwischen der Wirklichkeit und dem Treueideal, das Julia bisher kultiviert hat. Dieser Fremde ist in Wirklichkeit August Kuhbrot, er tut aber so, als ob er Roderich wäre, weil er in Julias Beuteschema hineinpassen möchte. Es gibt dann einen weiteren, einheimischen Mann, Egon, der auch an Julia interessiert ist, für sie aber nicht in Frage kommt, die Figur des unbeholfenen Rivalen. Dieser Rivale enttarnt den falschen Roderich; am Ende taucht dann schließlich als zweiter Fremder auch noch der echte Roderich auf, der sich spontan in Julias Freundin verliebt. So kommt es operettentypisch nach einigen Verwicklungen zu der richtigen Verbindung von zwei Paaren – die beiden fremden Männer finden passende Partnerinnen, nur der unbeholfene Egon bleibt allein und wird nach Batavia geschickt.
Die Operette ist ja nach ihrer Bedeutung die „kleine Oper“. Was unterscheidet sie von der großen Oper?
Erlach: Äußerlich betrachtet ist für Operetten die Mischung aus gesprochenen Dialogen, Gesang und Tanz kennzeichnend. Es wird also nicht durchgehend gesungen, wie das bei den meisten Opern der Fall ist. Die Tänze sind immer am Puls der jeweiligen Entstehungszeit, und die Entwicklung der Handlung spielt sich häufig in drei Akten ab. Zunächst wird dazu ein dramatischer Knoten aufgebaut, der immer im Kontext einer sich anbahnenden Liebesbeziehung steht, die aber aus irgendwelchen Gründen nicht ganz passend ist. Gegen Ende des zweiten Aktes, also vor der Pause, kommt dieser Konflikt ans Licht und es droht ein Scheitern. Nach der Pause erfolgt dann die Lösung, fast immer in Form eines Happy Ends. Überspitzt kann man sagen: In einer Oper sind am Ende alle tot, in der Operette finden sich die Richtigen. Das stimmt natürlich in dieser Zuspitzung nicht, aber es enthält einen wahren Kern: Die Oper entwickelte sich gattungsgeschichtlich aus der antiken Tragödie, die Operette aus der Komödie, es gibt also einen grundlegenden Unterschied im Genre.
Die Kritiker sprachen damals von einem Meisterwerk der Berliner Operette, das zu Beginn der Goldenen Zwanziger den Trend nach Exotismus gehörig auf die Schippe nimmt. Was ist damit gemeint?
Erlach: Unter Exotismus versteht man die Tendenz, Schauplätze in der Fremde vorzuführen – häufig klischeehaft, sei es im verklärenden oder auch im bedrohlichen Sinne. Man spricht auch vom „Reiz des Fremden“. In der Operette der 1920er Jahre war Exotismus ebenfalls ein bedeutendes Thema. Ich nenne als Beispiele von Franz Lehár „Das Land des Lächelns“, in der „chinesisch“ klingende Musik eingesetzt wird, und den „Zarewitsch“ mit russischem Kolorit, oder auch „Die Blume von Hawaii“ von Paul Abraham, eine Operette, die teilweise in Honolulu spielt. Man hat heute oft den Verdacht, dass hinter diesen Stücken kolonialistische Tendenzen stecken, dass sie deshalb nicht mehr salonfähig sind, übersieht dabei aber vielleicht die aufklärerischen Wurzeln, aus denen diese Einführungen fremder Welten stammen. Künneke unterscheidet sich von dem üblichen Exotismus der 20er-Jahre-Operetten, weil er den Exotismus nicht als dekorativen Zusatz verwendet, sondern ironisch behandelt. Der Exotismus im „Vetter aus Dingsda“ erscheint in Gestalt des Ortes Batavia auf der Insel Java, der allerdings nicht gezeigt, sondern nur erwähnt wird. Hinzu kommt, dass derjenige, der davon erzählt, nämlich August Kuhbrot, in Wirklichkeit gar nicht dort war. Es liegt also eine doppelte Brechung der Perspektive auf den Ort vor.
Zu seinem Erfolg trug Künnekes Geschick bei, Gesangsnummern mit den damals neu aufkommenden Modetänzen Foxtrott, Paso doble, Tango oder Valse Boston zu verweben. Veränderte er damit die Operette im 20. Jahrhundert?
Erlach: Ja, auf jeden Fall. In früheren Operetten war der Tanz vor allen Dingen mit einem Kollektiv verbunden. Wenn man an Offenbachs „Höllengalopp“ denkt oder auch den 2. Akt der „Fledermaus“ von Johann Strauß, so geht es dort um ekstatische Massenspektakel. In späteren Operetten (zum Beispiel in Lehárs „Lustiger Witwe“) wurde auch bei Duetten und anderen Ensemble-Szenen häufiger getanzt. Es werden dann zum Beispiel zwei Strophen gesungen und zur Musik der dritten Strophe wird getanzt. Nun muss man wissen, dass im ersten Weltkrieg das Tanzen in Deutschland verboten war, und dass dieses Tanzverbot erst an Silvester 1918 wieder aufgehoben wurde. Das löste offenbar eine regelrechte Tanzepidemie aus. In diese Zeit fällt auch die Uraufführung des „Vetter aus Dingsda“, und Künneke verwendete hierbei die genannten Tänze, die neu nach Europa kamen. Man kann sagen, dass die Operettenkomponisten der 20er Jahre gerade diese aus Amerika kommenden Tanzformen aufgriffen, zum Beispiel auch Shimmy und (später) Charleston. Die Besonderheit beim „Vetter aus Dingsda“ liegt darin, dass die Tänze nicht beliebig eingesetzt werden, sondern einen Bezug zur Handlung aufweisen.
„Der Vetter aus Dingsda“ bietet alles, was man sich wünschen kann: schwärmerisch-romantische Momente, herzergreifende Gefühlsverwirrungen, mitreißende Tanzrhythmen und eine gute Prise Walzerseligkeit! Wie vermittelt man diese Musik heute einem Social Media-Publikum?
Erlach: Die Themen, die hier besprochen werden, gehören heute wie damals zur Lebenswelt junger Leute. Julia de Weert wird gerade volljährig, sucht den passenden Partner, hat romantische Fantasien und erfährt Verwicklungen und Enttäuschungen. Eine solche Thematik spricht junge Menschen immer an. Im Bereich der Musiktheaterpädagogik habe ich im Laufe der Jahre die Erfahrung gemacht, dass es am besten funktioniert, wenn man etwas selbst tut und ausprobiert. Also: sich in die Rollen des Stücks hineinversetzen, die dargestellten Begebenheiten mit eigenen Erfahrungen zu verknüpfen und das dann vor anderen in Szene zu setzen. Solch kleine Bühnenübungen, auch unter Hinzunahme von Musik, machen Spaß, und man findet schnell in das Stück hinein. Bei unseren Studierenden erlebe ich eine große Offenheit gegenüber dem Thema Operetten. Ich habe mehrfach Operettenseminare angeboten, auch mal ein Operettenprojekt. Das fand immer begeisterten Zuspruch. Ich glaube, es ist die Mischung aus Humor und schöner Musik, die anziehend ist. Allerdings denke ich, dass so ein Stück nur analog funktioniert und nicht digital, weil es für eine kleine Bühne konzipiert ist und von körperlicher Bewegung sowie von der Nähe und Distanz der Protagonisten lebt.
Uwe Blass
Das komplette „Jahr100Wissen“-Interview lesen Sie hier.
Prof. Dr. Thomas Erlach ist seit 2014 Universitätsprofessor für Didaktik der Musik an der Bergischen Universität.