„Jahr100Wissen“: Die schönste Mumie der Welt und das Rätsel um Formaldehyd
In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftler*innen der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben. Am 6. Dezember 1920 starb Rosalia Lombardo im Alter von zwei Jahren an der Spanischen Grippe. Heute liegt sie – mumifiziert – in den Katakomben von Palermo. Sie scheint zu schlafen. Im „Jahr100Wissen-Interview“ spricht Prof. Dr. Thorsten Benter, Leiter der Arbeitsgruppe Physikalische und Theoretische Chemie, über „die schönste Mumie der Welt“ und das Rätsel um Formaldehyd.
Mumien faszinieren seit jeher die Menschen. Meist denkt man dabei an die ägyptischen Pharaonen, doch Mumien gibt es in allen Erdteilen. Die bis heute besterhaltene ist jedoch die eines kleinen Mädchens aus Palermo: Rosalia Lombardo. Der Einbalsamierer, Alfredo Salafia, der das Mädchen für die Ewigkeit vorbereitete, und sie somit perfekt erhielt, gab die Rezeptur zu Lebzeiten nicht bekannt. Im Nachlass des Mediziners fand Dario Piombino Mascali von der Universität Palermo ein Manuskript, in dem Salafia den Gebrauch von Formaldehyd beschrieb. Um welchen Stoff handelt es sich dabei?
Benter: Formaldehyd ist eine chemische Verbindung, die aus zwei Atomen Wasserstoff und jeweils einem Atom Kohlenstoff und Sauerstoff besteht und in der „Summenschreibweise“ als H2CO angeschrieben wird. Formaldehyd (oder Methanal, H2CO) ist bei Raumtemperatur und Normaldruck eine farblose, gasförmige Substanz. Der Siedepunkt liegt bei etwa ‑20 °C, der Schmelzpunkt bei -117 °C. Leitet man den gasförmigen Formaldehyd in Wasser ein, so kommt man zu einer wässrigen Lösung, die Formalin genannt wird. Formalin wird im Handel von verschiedenen Herstellern angeboten. Der Formaldehydgehalt der Lösung wird in den meisten Fällen in Massenprozent angegeben und in verschiedensten Gebinden vertrieben. Übliche Gehalte sind 37 Prozent Formaldehyd. Der auf solchen Gebinden befindliche Verwendungszweck für diese Lösungen dient fast immer zur Sterilisation, zur Fixierung von Geweben und Zellen usw. und gibt schon einen deutlichen Hinweis auf seine Wirkungsweise im menschlichen Körper.
Da Salafia auf die bis dahin schädlichen Gifte Arsen und Quecksilber zur Einbalsamierung verzichtete, blieben auch alle inneren Organe erhalten. Was bewirkt Formaldehyd im menschlichen Körper?
Benter: Diese Frage kann aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet und auf mehrere Weisen beantwortet werden. Die Wirkung einer Substanz auf einen Organismus hängt immer von der Dosis der Verabreichung oder Exposition ab. Es ist entscheidend, ob dieser Organismus bereits tot ist, oder nicht. Ziel der Bemühungen bei der Konservierung ist es, den Körper – insbesondere die äußere Erscheinung – möglichst lange unversehrt zu erhalten. Die Frage ist dann eigentlich: Welche Prozesse führen dazu, dass ein toter Organismus „zerfällt“, also seine biologische Integrität verliert?
Zersetzung jeglicher Art bedeutet in diesem Zusammenhang das Aufspalten großer Moleküle in immer kleinere. Angetrieben wird die Zersetzung durch Enzyme, die von den immer anwesenden Bakterien und Pilzen abgegeben werden. Die enzymatische Zersetzung verläuft spontan und freiwillig, d.h. unter Energieabgabe. Auch die im Körper des verstorbenen Organismus befindlichen und weiterhin aktiven Enzyme (sogenannte supravitale oder überlebende Enzyme) können die Zersetzung vorantreiben. Mit diesen Erkenntnissen haben wir auch den Schlüssel zur Konservierung gefunden: Bakterien und Pilze müssen abgetötet werden. Die großen, unzersetzten organischen Moleküle des toten Organismus, wie Eiweiße, Proteine usw. sollen vor dem Angriff durch supravitale Enzyme geschützt werden.
Quecksilber und Arsen sind hier nur sehr beschränkt wirksam, denn sie müssen ja im Grunde den ganzen verstorbenen Organismus durchdringen um dann ihre Toxizität zu entfalten. Und diese ist gegenüber den genannten Protagonisten, vor allem den Enzymen, nur sehr eingeschränkt gegeben. Eine über bzw. in den verstorbenen Organismus eingeführte Formalinlösung hingegen wirkt nahezu überall und unselektiv. Das liegt vor allem daran, dass Formaldehyd ein kleines Molekül ist, das in nahezu alle Bereiche des Organismus vordringen kann und mit seiner ausgeprägten molekularen Funktionalität eben auch viele molekulare Angriffspunkte findet. Mit anderen Worten: Auf der einen Seite wirkt Formaldehyd toxisch gegenüber Bakterien und Pilzen, auf der anderen Seite modifiziert er molekulare Strukturen in allen Organen bzw. im ganzen Körper so, dass ein enzymatischer Angriff kaum oder gar nicht mehr möglich ist. Die makroskopische Integrität der Gewebe bleibt dabei aber erhalten. In diesem Zusammenhang spricht man auch von „Denaturierung“, die von einer makroskopischen beobachtbaren „Härtung“ des behandelten verstorbenen Organismus begleitet ist.
Formaldehyd kommt in flüssiger und gasförmiger Form vor und gilt als wichtiger industrieller Rohstoff im Lebensmittel- und Arzneibereich mit einer Jahresproduktion von 21 Mio. Tonnen. Wozu benutzt man Formaldehyd heute?
Benter: Formaldehyd ist eine unverzichtbare „Grundchemikalie“. Es werden weltweit tatsächlich über 40 Mio. Tonnen Formaldehyd produziert, etwa die Hälfte davon in China. Dem Chemielehrbuch kann man entnehmen, dass Formaldehyd einer der wichtigsten organischen Grundstoffe in der chemischen Industrie ist. Er dient als Ausgangsstoff für zahlreiche chemische Verbindungen. Der größte Marktanteil liegt im Bereich der Harnstoff-Formaldehyd-Harze, der Phenoplaste, der Polyoximethylene und einer Reihe von chemischen Zwischenprodukten, wie etwa Pentaerythrit. Pentaerythrit wird ebenfalls zur Herstellung von Harzen sowie Weichmachern und Emulgatoren verwendet und – wie sollte es anders sein – zur Herstellung von Sprengstoffen. Weiterhin findet Formaldehyd Anwendung bei der Herstellung diverser Farbstoffe, Arzneistoffe und in der Textilveredelung.
Trotzdem gilt Formaldehyd als krebserregend. Welche gesundheitlichen Schäden gehen von diesem Stoff aus?
Benter: Formaldehyd ist gesundheitsschädlich, oder prägnanter formuliert, sehr giftig. Daher findet man auch Gefahrenhinweise auf den Behältern, in denen Formaldehyd gelagert wird. Und so gibt es eine ganze Reihe von zwingend vorgeschriebenen Regeln und Maßnahmen im Umgang mit Formaldehyd. In einem Raum von 30 m3 Volumen, das entspricht einem Zimmer mit 2,50 m Deckenhöhe und 4 x 3 m2 Grundfläche, darf sich demnach im 8-Stundenmittel nur maximal 10 cm3 gasförmiger Formaldehyd vollständig verteilt befinden, was einem halben Schnapsglas Gas entspricht. Vor allem die in 2015 durch die EU rechtsverbindliche Einstufung von Formaldehyd in die Kategorie „Wahrscheinlich karzinogen beim Menschen“ schreibt vor, dass die Belastung unabhängig von Grenzwerten immer so gering wie möglich zu halten ist.
Formaldehyd befindet sich auch in der Atmosphäre. Ihr Team hat dazu sogar Messungen vorgenommen. Was können Sie mit diesen Messungen herausfinden?
Benter: Hier muss man zwischen Messungen in der Außenluft und im Innenraum unterscheiden. Innenraumluftmessungen liefern im Ergebnis eine Bestandsaufnahme der Luftqualität. Darüber hinaus können solche Messungen dazu dienen, offensichtliche oder verborgene Quellen von Formaldehydemissionen in Innenräumen aufzuspüren. In die Raumluft abgegebener Formaldehyd wird in der Gasphase kaum abgebaut und kann dadurch akkumulieren.
Ganz anders hingegen ist die Situation in der Außenluft, vor allem in der Gegenwart von Sonnenlicht. Die atmosphärische Lebensdauer (eine Art mittlerer Verweildauer eines Moleküls, bevor es aus der Atmosphäre „entfernt“ wird) von Formaldehyd beträgt in diesem Fall nur maximal einige Stunden. Viel entscheidender aber ist die Entfernung durch chemische Reaktion, das heißt durch die Transformation in eine andere Substanz. Die unterschiedlichen Zeitskalen, auf denen diese Reaktionen ablaufen, sind von großer Bedeutung für das Verständnis der Chemie der Atmosphäre. Konzentratio“nsmessungen etwa von Formaldehyd (und vielen andern Substanzen!) geben daher eine Momentaufnahme über den derzeitigen Zustand und lassen Rückschlüsse und Projektionen zu. Neben diesen Messungen „im Feld“ gehören dazu umfangreiche Laborexperimente sowie umfangreiche Modellierungen, um so ein immer besseres Verständnis für die Chemie der Atmosphäre zu gewinnen.
Uwe Blass
Das komplette „Jahr100Wissen“-Interview lesen Sie hier.
Prof. Dr. Thorsten Benter studierte von 1982 bis 1987 Chemie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und promovierte 1993 ebenda. Seine wissenschaftliche Tätigkeit führte ihn 1997 für vier Jahre an die University of California, Irvine. An der Bergischen Universität leitet er seit 2001 die Physikalische und Theoretische Chemie und vertritt sie in Forschung und Lehre.