Jahr100Wissen: Ein langer Weg
In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftler*innen der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben. Am 7. Oktober 1920 konnten Studentinnen der Oxford University erstmals dieselben akademischen Grade wie ihre männlichen Kommilitonen erwerben. Ein Jahr100Wissen-Interview über die Gleichberechtigung an Universitäten mit der Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Astrid Messerschmidt.
Der 7. Oktober 1920 markiert eine wichtige Änderung im Bildungssystem der Universitäten. An der Oxford University durften die ersten 100 Frauen dieselben akademischen Grade erwerben wie ihre männlichen Kommilitonen. Wie kam diese Entscheidung zustande?
Messerschmidt: Die Oxford University kann als Eliteausbildungsstätte eingeordnet werden. Hier waren die Hürden für Frauen in der akademischen Alltagskultur besonders hoch. Männlichkeitsideale, Corpsgeist und etablierte Clubs für die sogenannten „Gentlemen“ prägten das Campusleben. Die Öffnung kam vor diesem Hintergrund nicht durch ein Umdenken innerhalb des Universitätssystems zustande, sondern ist von den Frauenbewegungen erkämpft worden. Bereits 1878 hatte sich die Vereinigung für die Hochschulbildung von Frauen gegründet und verschiedene Colleges für Frauen waren eingerichtet worden. Dennoch dauerte es noch über vierzig Jahre bis den Frauen ein gleichwertiger akademischer Abschluss und der reguläre Mitgliedsstatus an der Oxford University ermöglicht worden ist. Die ersten Versuche von Frauen, nicht nur ein Zertifikat ihrer Hochschule, sondern auch einen Akademischen Grad zu erhalten, scheiterten in den 1880er Jahren mehrfach. Die männlichen Studenten und ihre Anhänger demonstrierten gegen die Zulassung von Frauen.
Bis Ende des 19. Jahrhunderts war die Universitätsleitung in Oxford davon überzeugt, dass die Anwesenheit von Frauen auf einem männlich geprägten Campus die Moral der Studenten untergraben würde. Bis 1957 war die Anzahl der Frauen in Oxford übrigens limitiert. Es durften nicht mehr als 870 Frauen dort studieren. Diese zögernden, von Befürchtungen und Abwehrmaßnahmen begleiteten Öffnungen zeigen, wie stark das Bild von Frauen als Fremdkörper an der Universität gepflegt und verteidigt worden ist.
Zwar wurde 1878 bereits mit Lady Margret Hall das erste reine Frauencollege gegründet, aber Gleichberechtigung sah damals noch anders aus, oder?
Messerschmidt: Gleichberechtigung ist kein Ad-hoc-Geschehen. Eher lässt sie sich als langwieriger Prozess beschreiben, der keineswegs ungebrochen verlaufen ist. Die Vorstellungen über vermeintliche besondere Eigenschaften von Frauen – aus der Perspektive von Männern in den Institutionen – sind dabei einflussreich gewesen und haben auch heute noch Auswirkungen auf die akademischen Karrierewege von Frauen. Das exkludierende Bildungsdenken war männlich geprägt und bezweifelte die intellektuellen Fähigkeiten von Frauen. Dabei wurde immer wieder auf die körperlichen Beschaffenheiten des weiblichen Geschlechts Bezug genommen, die angeblich einer akademischen Tätigkeit im Wege stünden. Der Fortschritt hin zu mehr Gleichberechtigung kam auch hier nur durch das Engagement der Frauen selbst zustande.
Hochschulen in England, die speziell für Frauen gegründet wurden, wie die Somerville (1879), Lady Margaret Hall (1879), St. Hugh's Hall (1886), and St. Hilda's (1893) boten Frauen eine Chance, abseits der Männerbünde zu studieren. Insofern würde ich diese schon als wichtige Institutionen der Gleichberechtigung in Bildung und Wissenschaft einordnen. In Deutschland waren die Mädchengymnasien ebenfalls institutionelle Meilensteine auf dem Weg zur Bildungsgleichstellung der Geschlechter. Denn auch wenn dort lange das Ideal der „kultivierten Häuslichkeit“ vermittelt wurde, so boten sie doch Zugänge zu höherer Bildung. Zugleich zeigt sich hier wie in England, dass diese Zugänge zunächst nur für die Töchter privilegierter Familien offen waren. Wenn wir also über die Geschlechtergeschichte in der Bildung sprechen, ist zugleich die Klassenungleichheit zu berücksichtigen, was auch für die Frauenbewegungen immer wieder ein wichtiges Thema und eine Schwierigkeit gewesen ist.
1864 lässt die Uni Zürich als erste deutschsprachige Hochschule Studentinnen zu, 1896 werden Gasthörerinnen in Preußen zugelassen, das Großherzogtum Baden lässt 1900 als erstes deutsches Land Frauen als ordentliche Studierende an den Universitäten Freiburg und Heidelberg zu und ab 1909 dürfen Frauen in allen deutschen Ländern studieren, ab 1921 auch habilitieren. Die Gleichberechtigung von Studentinnen und Studenten hat auch danach immer wieder Höhen und Tiefen gehabt. Welche Gründe gab es dafür?
Messerschmidt: Im deutschen Kaiserreich, das in zahlreiche Fürstentümer fragmentiert gewesen ist, deren Nachwirkungen noch heute im föderalen Bildungssystem spürbar sind, war der Weg der Frauen an die Universität ebenfalls voller Hindernisse. Auch hier spielte die männlich geprägte Universitätskultur eine große Rolle. Einflussreiche Netzwerke der Studenten in Form von Burschenschaften und Kameradschaften waren exklusiv für Männer vorgesehen und regelten die Zugänge zu den Fakultäten. Dies hat akademische Gepflogenheiten geprägt und lange nachgewirkt. Die Gleichberechtigung wurde nicht gewährt, sondern durch vielfältige Aktionen und Organisationen aus den Frauenbewegungen heraus erkämpft.
Daran zu erinnern, ist heute wichtig, weil für viele der heutigen Studentinnen und Studenten die Ausgrenzung und Benachteiligung von Frauen nicht in ihrem eigenen Alltag erfahrbar sind oder nicht bemerkt werden. Sie sind indirekter und subtiler geworden und unterscheiden sich stark von den Verhältnissen vor einhundert Jahren. Dass die Gleichberechtigung so mühsam erkämpft werden musste und so diskontinuierlich verlaufen ist, macht klar, dass es sich um eine fragile und immer wieder angefeindete Errungenschaft handelt. Jahrestage wie der 7. Oktober 1920 können das Gesellschaftsgedächtnis dafür sensibilisieren.
Frauen haben heute an bundesdeutschen Hochschulen die gleichen Chancen wie ihre männlichen Kommilitonen. Würden Sie diesem Satz voll zustimmen?
Messerschmidt: Im Jahr 2019 war jeder vierte Lehrstuhl an deutschen Universitäten und Hochschulen von einer Frau besetzt, während der Anteil an Promotionen fast die Hälfte ausmachte, der an Habilitationen etwas weniger als ein Drittel. Es hat in den letzten Jahren Fortschritte bei der Gleichstellung von Frauen im akademischen Bereich gegeben. Dafür haben sich viele Frauen eingesetzt, und ohne die formalen Schritte der Gleichstellung, die gesetzlich verankert worden sind, wäre das nicht zustande gekommen. Je höher in der akademischen Hierarchie die Stellen zu besetzen sind, umso geringfügiger fällt dieser Fortschritt aus. Von 1997 bis 2017 stieg der Anteil von Professorinnen von neun auf 23,4 Prozent. Das ist zwar erheblich, hat aber ziemlich lange gedauert und ist noch weit von einer wirklichen Gleichstellung entfernt. Immer noch gibt es Hürden für Frauen, wenn sie eine Familie gründen, und immer noch bewirkt die Möglichkeit der Schwangerschaft an den Entscheidungsstellen der Personalrekrutierung, auf Nummer sicher zu gehen und sich doch lieber für einen Mann zu auszusprechen. Allerdings widerspricht das den eingeführten Prinzipien der Gleichstellung, was es tatsächlich schwieriger macht, die Vorbehalte gegen die Einstellung von Wissenschaftlerinnen an der Universität ungebrochen zur Geltung kommen zu lassen. Das ist immerhin erreicht worden.
Uwe Blass
Das komplette „Jahr100Wissen“-Interview lesen Sie hier.
Prof. Dr. Astrid Messerschmidt habilitierte sich für Pädagogik 2009 am Fachbereich Humanwissenschaften der Technischen Universität Darmstadt. Sie arbeitete u.a. als Professorin für Interkulturelle Pädagogik/Lebenslange Bildung an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Seit 2016 forscht und lehrt sie als Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Geschlecht und Diversität an der Bergischen Universität.