Universitätskommunikation – Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

„Jahr100Wissen“: „Ein Startenor mit schrulligen Ritualen“

30.07.2021|10:50 Uhr

In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftler*innen der Bergischen Universität mit Ereignissen, die 100 Jahre zurückliegen und von besonderer Bedeutung für die Gesellschaft waren. Im Interview spricht Prof. Dr. Thomas Erlach über den Startenor Enrico Caruso, dessen Todestag sich am 2. August zum 100. Mal jährt.

Prof. Dr. Thomas Erlach<br /><span class="sub_caption">Foto UniService Transfer</span><br /><span class="sub_caption">Klick auf das Foto: Größere Version</span>

Am 2. August 1921 starb der wohl bekannteste Startenor des 20. Jahrhunderts: Enrico Caruso. Wer war dieser Mann?

Erlach: Enrico Caruso hat eine klassische Aufsteigerbiografie durchlaufen. Er stammte aus einer armen Familie in Neapel, musste als Kind in einer Eisengießerei arbeiten und ist dort aufgefallen, weil er immer bei der Arbeit gesungen hat. Außerdem sang er im Kirchenchor, und der Pfarrer hat ihn musikalisch gefördert, sodass er auch Gesangsunterricht genommen hat. Er war sehr ehrgeizig, arbeitete viel an sich selbst, an seiner eigenen Technik. Anfangs hatte er ziemliche Höhenprobleme beim Singen sowie extreme Auftrittsangst, die er dann aber durch autodidaktisches Studium überwinden konnte.

Schon mit 18 Jahren hatte er sein Operndebut, zunächst allerdings mit wechselndem Erfolg. Der Durchbruch gelang ihm erst 1898, als er 25 Jahre alt war, mit Umberto Giordanos „Fedora“ in Mailand. Relativ bald war er dann auch im Ausland erfolgreich, u. a. in New York. Die Metropolitan Opera wurde später seine Stammbühne. Er ist 18 Spielzeiten hintereinander dort aufgetreten, zum Star avanciert und Großverdiener geworden. Wenn man nach den Gründen für diese Erfolge fragt, kann man sagen, dass Caruso ein Stimmwunder gewesen ist, der gute Naturanlagen hatte. Bei seiner Stimme ist praktisch kein Registerwechsel hörbar, also der Übergang zwischen Brust- und Kopfstimme, der vielen Sängerinnen und Sängern solche Schwierigkeiten bereitet. Dadurch ist sein Stimmklang sehr homogen, die Höhen sind sehr kraftvoll.

Er lebte in wilder Ehe, war Zielscheibe der „schwarzen Hand“, einer Art Mafiavorläufer, entging in Kuba einem Bombenattentat, war überaus spendabel und bei Auftritten immer auch für Scherze verantwortlich. Kann man ihn vielleicht als erstes Enfant terrible des 20. Jahrhunderts bezeichnen?

Erlach: Um Caruso rankt sich ein Mythos. Dieser Mythos ist konstruiert worden, teilweise durch Aufzeichnungen seiner Frau, aber auch durch Romane und Filme, die relativ bald über ihn entstanden. Er war sehr modebewusst und hatte einige etwas schrullige Rituale. Zum Beispiel hat er vor seinen Auftritten immer verschiedene Mundspülungen durchgeführt und dann anschließend noch mehrere Zigaretten geraucht. Das sind Dinge, die die Welt interessant fand. Ich würde aber sagen, dass die aufregenden biografischen Ereignisse normalerweise nicht das entscheidende Merkmal für die Charakterisierung als Enfant terrible sind, sondern eher künstlerische Neuerungen. Da sind im 20. Jahrhundert andere Musiker stärker hervorgetreten, zum Beispiel Komponisten wie Arnold Schönberg oder Paul Hindemith, die tatsächlich ganz neue Klänge produziert haben. Caruso war ästhetisch eher konservativ. Er hatte kein Interesse an damals neuer Musik, abgesehen von Puccini, der aber eher eine rückwärtsgewandte Ästhetik hatte.

Er hatte eine unübertroffene Bühnenpräsenz und sein Volumen sowie die Weichheit seiner Stimme sind bis heute unerreicht. Caruso hält auch den Rekord von 863 Auftritten auf der Bühne der Metropolitan Opera. Wie sah sein Repertoire aus?

Erlach: Caruso gilt als Tenor des Verismo. Der Verismo ist eine Richtung der italienischen Oper in der damaligen Zeit, vertreten vor allem durch Puccini. Seine Paraderolle war der Canio aus dem „Bajazzo“ von Ruggero Leoncavallo. Das ist eine Komödienfigur, eine Art Clown, der von seiner Theaterpartnerin betrogen wird und sie schließlich umbringt. Caruso beherrschte über 60 hauptsächlich italienische Opernpartien. Neben Puccini waren das vor allem Verdi, Donizetti, Bellini, Leoncavallo und Giordano, sowie französisches Repertoire, das er zweisprachig singen konnte. Bis auf wenige Ausnahmen bediente er das deutschsprachige Repertoire nicht. Er ist einmal auch als Lohengrin aufgetreten, das lag ihm aber nicht so, und auch Mozart hat er recht wenig gesungen. Eine Besonderheit seines Gesangs war – er kam ja aus dieser italienischen Belcantotradition –, jeder Partie, die er studiert hat, eine besondere Farbe zu geben, was von denen, die ihn live gehört haben, immer besonders hervorgehoben wurde. Er hatte eine außergewöhnliche Bühnenpräsenz und eine sehr große Raumwirkung.

Sein „La Donna e Mobile“ ist den jüngeren Menschen heute eher noch aus der Pizzawerbung bekannt, wobei er einer der ersten Sänger war, der Schallplattenaufnahmen machte. Sein 1904 aufgenommenes Vesti La Giubba (aus Leoncavallos Oper Pagliacci) gilt mit über einer Million verkaufter Schallplatten seit der Veröffentlichung als erster Millionenseller der Schallplattenindustrie. War er auch da ein Vorreiter?

Erlach: Ja, das war er. Das Grammophon war ja noch gar nicht so lange erfunden, als Caruso 1902 seine ersten Schallplattenaufnahmen machte. Schon zwei Jahre später war die Millionengrenze geknackt. Er war da sehr schnell sehr erfolgreich. Seine Diskografie weist über 500 Titel auf. Die Entwicklung des Grammophons und Carusos Bekanntheit beflügelten sich gegenseitig, denn seine Stimme war aufgrund seines baritonalen Timbres für die Aufnahmetechnik besonders geeignet, die ja damals noch sehr unzulänglich war, weil es noch keine Mikrofone gab. Caruso musste direkt in den Schalltrichter singen. Man hatte auch nur sehr kurze Aufnahmedauern von drei bis vier Minuten und keine Korrekturmöglichkeiten. Die damaligen Schallplatten umfassten daher keine Gesamtwerke, sondern beliebte Einzelnummern aus Opern, ferner Romanzen und Volkslieder wie „Santa Lucia“ oder „O sole mio“, die zu seinem Ruhm beigetragen haben. Interessant ist, dass diese Schallplatten auch bei Thomas Mann im „Zauberberg“ erwähnt werden, wo man im Sanatorium unter ärztlicher Aufsicht Musik hört. Verklausuliert ist es Carusos Stimme, die da beschrieben wird. Und noch heute erwecken diese Aufnahmen einen seltsamen und anrührenden Eindruck.

Carusos Tod schockierte die Welt. Mit gerade einmal 48 Jahren starb er an einer Brustfellentzündung und Blutvergiftung. Bei der Beerdigung säumten an die hunderttausend Menschen Carusos letzten Weg. Seitdem ruhen die sterblichen Überreste des Sängers in einem prunkvollen Mausoleum hinter Marmor. Erst 1930 wurde sein einbalsamierter Leichnam auf Drängen seiner Frau geschlossen. Welche Bedeutung hat er hundert Jahre später noch in der Musik?

Erlach: Für mich persönlich hat er eine sehr spezifische Bedeutung, weil ich meinen inzwischen verstorbenen Kater so genannt habe, der eine so schöne Stimme hatte. (lacht) Allgemein ist Caruso wichtig für die Entwicklung der modernen Interpretenkultur in der populären Musik. Die Person eines Sängers wird wichtiger als die Komposition, die vorgetragen wird. Dazu gehört das Herauspicken von schönen Stellen, die man aus dem Kontext beispielsweise einer Oper herausnimmt, um sie in einer bestimmten Art und Weise zu präsentieren. So etwas wie Medienrummel und außermusikalische Aspekte werden bedeutsamer als das musikalische Werk. Adorno hat das als „Fetischisieren des Künstlers“ kritisiert. Ich bin bei der Recherche in erster Linie auf populärwissenschaftliche Literatur gestoßen, es gibt kaum Fachliteratur über diese Phänomene. Andererseits finde ich es wichtig, sich mit diesen Fragen auch wissenschaftlich zu beschäftigen, im Sinne von Interpretationsgeschichte von Opern oder auch Geschichte der Gesangskultur oder des Gesangsunterrichtes.

In der Musikbranche gibt es immer wieder außergewöhnliche Künstler*innen. Wer ist denn Ihrer Meinung nach heute der weltweit führende Startenor?

Erlach: Mir fallen bei den Tenören jetzt Jonas Kaufmann und Rolando Villazón als erstes ein. Sie touren durch die Welt, operieren auch häufig mit Einzelnummern und Mischprogrammen auf Festivals. Sie sind sehr medienaktiv, haben aber auch klassische Rollen in Opern. Anders als früher ist ein solcher Erfolg heute ohne ein formales Hochschulstudium nicht mehr erreichbar. Die Ausbildung im klassischen Musikbereich ist seit Carusos Zeiten sehr stark spezialisiert und professionalisiert worden, sodass solche Naturwunder wie Caruso eher abnehmen.

Uwe Blass

Das vollständige „Jahr100Wissen“-Interview lesen Sie hier.


Prof. Dr. Thomas Erlach ist seit 2014 Universitätsprofessor für Didaktik der Musik an der Bergischen Universität Wuppertal.

 

Weitere Infos über #UniWuppertal: