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Jahr100Wissen: Pioniere im Arbeitsschutz // Unfallvertrauensmänner in DeutschlandEin Interview mit der Sicherheitstechnikerin Prof. Dr.-Ing. Anke Kahl

20.08.2019|11:05 Uhr

In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben. 1919 gab es die ersten innerbetrieblichen Unfallvertrauensmänner in Deutschland. Ein Jahr100Wissen-Interview mit der Sicherheitstechnikerin Prof. Dr.-Ing. Anke Kahl.

<span class="sub_caption">Foto Sebastian Jarych</span>

Frau Kahl, die Industrialisierung führte zu teilweise menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen. Ein erstes Arbeitsschutzgesetz, welches Kinderarbeit und Sonntagsarbeit reglementierte, wurde 1891 eingeführt. Der Arbeitsschutz hat also eine lange Geschichte in Deutschland. Die wichtigen Errungenschaften, neben der Einführung des 8-Stunden-Tages, waren ab 1919 die ersten Unfallvertrauensmänner. Welche Aufgabe hatten sie?

Die Unfallvertrauensmänner entsprechen im Anliegen den heutigen betrieblichen Sicherheitsbeauftragten. Das sind die Fachleute vor Ort. Ihre Aufgabe war es, ein Bindeglied zwischen dem Arbeitgeber und den Arbeiterinnen und Arbeitern zu sein und Gefährdungen vor Ort sofort zu vermeiden oder zu minimieren. Diese Menschen waren unmittelbar in den Arbeitsprozess eingebunden und hatten einem wachen Blick auf spezielle Gefährdungslagen.

Durch die Industrialisierung mit all den technischen Entwicklungen wie der Dampfmaschine oder dem automatischen Webstuhl, hatten sich die Arbeitsbedingungen komplett geändert. In den Fabriken haben die Arbeiter Waren maschinell hergestellt und die Arbeitsabläufe waren häufig – anders als heute – so gestaltet, dass kein Sicherheitspaket zur Seite stand, in dem die Gefährdungen beurteilt und die Leute unterwiesen wurden. Das gab es alles nicht. Wir hatten z. B. offene Transmissionsbänder ohne Absicherung, wo die Menschen, die zu Schaden kamen, irreparable Schäden davontrugen.

Erst 1884 wurden mit dem Unfallversicherungsgesetz die ersten Unfallrenten sowie eine erste medizinische Heilbehandlung eingeführt. Also eine finanzielle Unterstützung, wenn der Haupternährer verunfallte. Und die großen Firmen wie Bayer, Thyssen und Krupp waren auf dem Gebiet ganz vorne dabei.

Man darf dies allerdings nicht mit unserem heutigen Präventionsblick sehen. Die ersten betrieblichen Aktivitäten zum Schutz der Arbeitnehmer war sehr korrektiv ausgerichtet. Man handelte erst, wenn etwas passiert war. Mit den Unfallvertrauensmännern führte man jedoch ein erstes Element der Prävention ein. Und dieser Schritt war so erfolgreich, dass man ihn später im Sozialgesetzbuch VII, nun als Sicherheitsbeauftragte benannt, festgeschrieben hat.

Wie entwickelten sich diese Unfallvertrauensmänner weiter?

Sie hatten eine wichtige Stellung. Da hieß es z.B.: „der Unfallvertrauensmann hat die von ihm vertretenen Betriebsangehörigen gegenüber dem Betriebsinhaber auf die Beachtung der Sicherheitsvorschriften zu achten und den Betriebsinhaber aufzufordern, die entsprechenden Sicherheitsvorschriften zu treffen.“ Man sprach damals in einem Befehlston und mit erhobenem Zeigefinger. Historische Plakate aus dieser Zeit zeigen eindrucksvoll, wie damals das „Gehorchen“, „Befolgen“ und auch „Bestrafen bei Zuwiderhandlung“ im Fokus der betrieblichen Sicherheitshandlung stand.

Heute ist der Sicherheitsbeauftragte Teil des Teams und bringt sich dauerhaft ein, und dies ohne erhobenem Zeigefinger. Das hat auch mit der sich weiterentwickelten Sicherheitskultur in den Betrieben zu tun.

So richtig in Fahrt kam der Sicherheitsgedanke erst mit der Gründung der Bundesrepublik 1949. Was passierte dann?

Es gab den ersten rechtlichen Rahmen, den die junge Bundesrepublik aufgestellt hat. Mit dem Grundgesetz wurde das Recht auf körperliche Unversehrtheit eingeführt und mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch die Basis gelegt, die Zusammenarbeit auf Grundlage eines Arbeitsvertrages mit Pflichten und Rechten auf beiden Seiten.

Der regulative Rahmen für die betriebliche Sicherheit kam erst mit Inkrafttreten des Arbeitssicherheitsgesetzes 1974 in Fahrt. Und dann nochmal 1996 mit dem Arbeitsschutzgesetz. Ab 1974 wurde u.a. der Sicherheitsbeauftragte gesetzlich vorgeschrieben und damit der Arbeitsschutz auch betrieblich verankert. Die regelmäßige Beratung des Arbeitgebers durch die Fachkraft für Arbeitssicherheit war ein zweiter Baustein.

Die Institutionalisierung besteht darin, dass wir speziell qualifizierte Personen im Unternehmen fest verankert haben, die den Arbeitgeber beraten und unterstützen. In sicherheitstechnischen Fragen geschieht dies durch die Fachkraft für Arbeitssicherheit, in arbeitsmedizinischen Fragen durch die Betriebsärztin oder den Betriebsarzt. Es verantworten also mehrere Personen die betriebliche Sicherung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes und daran müssen sich die Arbeitgeber auch halten.

In wieweit haben sich denn die Gefährdungslagen im Laufe der Jahre verändert?

Grundsätzlich gilt, wir haben heute einen viel höheren Anspruch an die dauerhafte Gesunderhaltung unsere Beschäftigten, d.h. wir schauen heute viel mehr als früher darauf, wie wir mit dem demographischen Wandel am Arbeitsplatz umgehen können. Auch die psychischen Belastungen stehen neben den klassischen Unfallgefährdungen im Fokus der Sicherheitsarbeit. Während wir früher viele mechanische Gefährdungen in den produzierenden Unternehmen zu gestalten hatten, finden heute die meisten Unfälle u.a. auf Baustellen und im Straßenverkehr (Wegeunfälle) statt, die ihre Ursache oft in organisatorischen und verhaltensbedingten Mängeln haben.

In einem modernen Maschinenbauunternehmen spielen die klassischen Gefährdungen eher eine untergeordnete Rolle. Da passiert es öfter, dass die Beschäftigten stolpern, stürzen oder aus niedriger Höhe fallen. Heute arbeiten wir ganzheitlich und schauen, dass die Mensch-Technik-Schnittstelle gefährdungsminimiert funktioniert; und zwar vom Auszubildenden bis hin zu Beschäftigten, die ins Rentenalter eintreten. Dass alles gehört in den Kompetenzbereich dieser Experten in Fragen Sicherheit und Gesundheit.

Sie haben gerade ein neues Buch mit dem Titel „Arbeitssicherheit: Fachliche Grundlagen“ herausgebracht. Was ist das Besondere an diesem neuen Grundlagenwerk?

Ein umfassendes Grundlagenlehrbuch zur Thematik Arbeitssicherheit hat es in dieser Form noch nicht gegeben. Und deshalb haben wir das hier an der Bergischen Universität vorangebracht. Es gibt nur sehr wenige Lehrstühle zur Arbeitssicherheit, universitär nur den einen hier in Wuppertal. Wichtig ist mir, die Arbeitssicherheit sowohl als wissenschaftliches also auch als sehr anwendungsnahes Themenfeld in der Lehre zu präsentieren.

Inhaltlich bedeutet das ganz klar, dass Arbeitsschutz nichts ist, was erst im Betrieb beginnt. Ganzheitlicher Arbeitsschutz beginnt bereits, wenn ich sichere Produkte konzipiere, indem ich schon in der Konstruktion die Sicherheit gezielt verankere, ob bei Maschinen, Werkzeugen oder Chemikalien. Kommen dann sichere Produkte in den europäischen Verkehr und damit in die Betriebe, dann ist das, was ich im betrieblichen Arbeitsschutz noch aktiv machen muss, i.d.R. viel weniger. Dadurch findet der betriebliche Arbeitsschutz auch mehr Akzeptanz.

D.h. Arbeitsschutz beginnt bei den Einkäufern, die z.B. nicht jede Chemikalie, die innerbetrieblich angefordert wird unreflektiert einkaufen. Es stellt sich die Frage: Wie können wir die Anzahl der vorhandenen Chemikalien im Unternehmen sinnvoll reduzieren, die wir auch sicher lagern, sicher handhaben und entsorgen müssen. Wie können wir Maschinen in unsere Unternehmen einbringen, die die Beschäftigten auch sicher über acht Stunden betreiben können.

Das ist der Kerngedanke dieses Buches: Die Produktsicherheit und den additiven Arbeitsschutz methodisch eng miteinander zu verbinden. Dieses Lehrbuch folgt damit dem umfassenden Präventionsansatz, den wir hier in Wuppertal in Forschung und Lehre konsequent verfolgen, um ganzheitliche Sicherheitskonzepte in allen Schutzbereichen (u.a. Bevölkerungsschutz, Brandschutz und eben auch Arbeitsschutz) unseren jungen Menschen mitzugeben. Sie sollen dieses Sicherheitswissen und -handeln dann als motivierte und gut ausgebildete Multiplikatoren in die Unternehmen und Institutionen tragen.

Sie sind als Prorektorin hier im Bergischen Städtedreieck sehr engagiert. Welche Unternehmen arbeiten ihrer Ansicht nach vorbildlich nach den Leitlinien der Arbeitssicherheit?

Viele mittelständische und kleine, vor allem auch familiengeführte Unternehmen der Region haben ein großes Interesse daran, dass ihre Belegschaft sicher und gesund den Arbeitsalltag bewältigt. Es liegt ein Irrglaube vor, wenn man denkt, dass nur die großen Unternehmen beim Thema Arbeits- und Gesundheitsschutz gut aufgestellt sind. Es gibt unterschiedliche Führungsstile und damit auch Sicherheitskulturen in den Unternehmen. Doch selbst in kleinen Unternehmen steht der Meister oft überzeugt und konsequent hinter den Sicherheitsmaßnahmen und achtet auf geeigneten Schutz für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wichtig ist, dass dem Unternehmer die Sicherheit persönlich wichtig ist. Dann ist die Etablierung einer nachhaltigen Präventionskultur deutlich einfacher umzusetzen.

Und das kann ich mit Bestimmtheit sagen: Wir haben diese Betriebe hier in der Region.

Weiteres Jahr100Wissen unter www.transfer.uni-wuppertal.de/de/jahr100wissen.html

UWE BLASS

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Prof. Dr.-Ing. Anke Kahl studierte Arbeitsingenieurwesen an der Technischen Universität Dresden (1989-1994) und war während ihrer beruflichen Laufbahn u.a. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (2003-2007). In der Fakultät Maschinenbau und Sicherheitstechnik der Bergischen Universität leitet sie das Fachgebiet Sicherheitstechnik/Arbeitssicherheit. Prof. Kahl ist seit 2008 Sachverständige am Bundesministerium für Arbeit und Soziales für Gefahrstoffe. Seit 2014 ist sie an der Bergischen Uni Prorektorin für Planung, Finanzen und Transfer.

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