„Jahr100Wissen“: Präsidentschaftswahlen in den USA
Am 3. November 2020 stehen die Präsidentschaftswahlen in den USA an. Fast auf den Tag genau vor 100 Jahren, am 2. November 1920, wurde der Republikaner Warren G. Harding zum 29. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Es gibt viele Parallelen zu Donald Trump. So war Harding als erfolgreicher Zeitungsverleger sehr begabt in öffentlichen Auftritten, zahlreiche Skandale begleiteten seine Regierungszeit und eine uneheliche Affäre wurde durch Bestechung zum Schweigen verurteilt. Wie ist die Karriere solcher Männer zu erklären?
Mittendorf: Das ist ein Spezifikum von präsidentiellen Systemen. Da wird Macht auf eine einzelne Person konzentriert und das ist natürlich ein ganz anderes System als hier bei uns in der Bundesrepublik. Wir haben ein parlamentarisches System, in dem die Macht auch im Kabinett auf mehrere Personen verteilt ist. Wir haben zudem die Unterteilung zwischen Präsident und Kanzler. Dadurch ist dieser personelle Faktor etwas reduziert und es fehlt die extrem starke Konzentration auf diese charismatischen Persönlichkeiten, die in der breiten Bevölkerung wirken. Sie benötigen, um so ein Amt einzunehmen, auch den unbedingten Willen oder das Gefühl, gerne im Mittelpunkt zu stehen. Bei einem Präsidentschaftswahlkampf muss man gerne vor Leuten stehen und reden. Das ist eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur, ein gewisser Narzissmus, der besonders stark ausgeprägt sein muss, um so ein Amt überhaupt anstreben zu wollen. Dazu kommt noch, Harding war ein erfolgreicher Zeitungsverleger, Trump ist erfolgreicher Bauunternehmer oder stammt aus einer erfolgreichen Bauunternehmerfamilie. Man kommt in den USA ohne extrem große eigene Ressourcen fast nicht in so ein Amt hinein. Die amerikanische Rechtsprechung setzt de facto fast keine Grenzen der privaten Wahlkampffinanzierung und dementsprechend sind es immer reiche Personen, Leute, die gute Vernetzungen in diesem Bereich haben.
Harding verfolgte, und auch das hat sich wiederholt, eine Politik des Isolationismus, heute als „America first“ bekannt, sowie eine Einwanderungsbeschränkung – siehe Trumps Mauerpläne. Haben die Amerikaner*innen das vergessen?
Mittendorf: Es war eine andere Zeit. Der Unterschied ist schlicht und ergreifend: Kurz nach dem ersten Weltkrieg, der auch viele Opfer in den USA forderte, hatte eine militärische Zurückhaltung in der Bevölkerung eine hohe Zustimmung. Isolationismus damals bedeutete ja eigentlich auch eine Abkehr von einer Kanonenbootpolitik, also die Durchsetzung von Wirtschafts- und Machtinteressen. Die USA, und das sieht man aus der europäischen Brille etwas weniger, war natürlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr erfolgreich darin, militärische Macht auch in wirtschaftliche Macht umzumünzen, wenn man in den pazifischen Raum schaut. Gegen diese Art von Wirtschaftspolitik wandte sich Warren Harding. Das hat eine andere Konnotation als die heutige Bündnispolitik, die wir im Kalten Krieg oder nachher in einer liberalorientierten Bündnispolitik hatten, gegen die sich Donald Trump richtet. Harding war im Gegensatz zu Trump ein sehr liberaler Mensch. Er hatte das Bild „Alle Menschen sind gleich“.
1920 waren erstmals Frauen wahlberechtigt, für deren Rechte sich Harding stark machte. Er erhielt 60,3 Prozent der Wahlmännerstimmen und erreichte einen erdrutschartigen Sieg. Was hatte er, was Anderen fehlte?
Mittendorf: Er hat das Frauenwahlrecht sehr stark unterstützt, das hat ihn sehr von den anderen Kandidaten unterschieden. Und er hat sehr gut in der Öffentlichkeit gewirkt. Seine Auftritte zeigen, er wusste sich gut in Szene zu setzen. Außerdem kam diese Kriegsabwehrhaltung sehr gut bei der Bevölkerung an. Er war also bei Frauen populär und bei Leuten, die den Frieden wollten.
Hardings Reden enthielten oft Versprecher oder Sinnfehler. Er beharrte jedoch darauf, seine Reden selbst zu schreiben. Kritiker*innen warfen ihm ein grauenhaftes, fehlerhaftes Englisch vor. Auch das kennen wir vom amtierenden Präsidenten. Wieso agieren Politiker*innen in solchen Führungspositionen nicht vorsichtiger?
Mittendorf: Weil sie es nicht müssen. Sie müssen nicht vorsichtiger agieren, das amerikanische Gefühl „Da ist einer von uns“, das ist etwas, was beide sehr gut vermitteln konnten. Das kann auch Trump sehr gut vermitteln, obwohl er nicht aus der Arbeiterschicht kommt. Diesen Eindruck verstärkt er geradezu noch durch seine schlechte Rhetorik. Es ist bei Harding wahrscheinlich auch nicht anders gewesen. Er wirkte wie einer aus dem Volk, der einfach redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist und dafür authentisch wirkt. Das Authentische bei den amerikanischen Präsidenten kommt gerade daher, dass sie die Sprache des Volkes sprechen. Da sind Versprecher nicht nur legitim, sondern sie wirken besonders sympathisch und authentisch.
Eine großangelegte Korruptionsaffäre seines Beraterstabs belastete die Amtszeit Hardings, Trump wirft man immer noch Wahlmanipulation in der Ukraine-Affäre vor. Wieso machen solche Skandale einer Regierung nicht den Garaus?
Mittendorf: Man denkt vielleicht, dass eine demokratische Bevölkerung eher sagt, die Leute müssen besonders ehrlich oder sonst was sein. Aber stimmt das? Wer hat nicht schon mal etwas bei der Steuer nicht angegeben? Es geht um ein Gefühl! Man kann sich die Frage stellen, ob Donald Trump wirklich das Richtige will, denn es gibt ja nicht wenige Politiker*innen in der Republikanischen Partei, die momentan sagen, er sei eigentlich jemand, der den Willen Russlands verfolge, das heißt überhaupt nicht patriotisch handele. Er hat lange Zeit davon gezehrt, dass er einfach durchsetzungsstark ist. Es kann dazu in der Bevölkerung auch attraktiv wirken, wenn jemand mit unredlichen Mitteln vermeintlich etwas für andere – und vermeintlich für einen selbst – erreicht.
Harding starb nach drei Amtsjahren plötzlich an einem Herzinfarkt. Trump steht vor seiner Wiederwahl. Wie schätzen sie seine Chancen ein?
Mittendorf: Ich hätte sie im April noch sehr gut eingeschätzt. Nun bin ich mir nicht mehr ganz so sicher. Es liegt daran, dass seine Untätigkeit in der Coronapolitik mittlerweile die eigene Wählerschaft sehr stark trifft. Dennoch kann man jemanden wie Trump nicht abschreiben, weil er entgegen aller Voraussagen im Prinzip immer wieder besser dagestanden hat, als es die Wahlprognosen angedeutet haben. Die Chancen halte ich immer noch für gegeben, wenngleich nicht mehr so groß. Die Schwäche der demokratischen Partei ist eben auch sehr offensichtlich. Der Vorauswahlmechanismus ist nicht besonders effektiv gewesen. Die Partei ist extrem zerstritten.
Es gibt viele Diskussionen in den USA, die auf eine Schwäche der amerikanischen Verfassung hinwirken, nämlich, dass der Amtsübergang nicht wirklich gut geregelt ist sowie die Problematiken, wenn Wahlen nicht stattfinden können. Aktuell in der Coronakrise lässt es die amerikanische Verfassung durchaus zu, dass das jeweilige Staatsparlament die Wahlmänner ins „Electoral College“ schickt. Und dementsprechend könnte es schlicht und ergreifend sein, dass die Wahlen für nicht durchführbar erklärt werden. Dann würden einige republikanische Staaten ihre Wahlmänner einfach so bestimmen. Und wenn das in den Swing States passiert, dann würde Trump dadurch unter Umständen Präsident bleiben, und das wäre eine Form des kalten Putsches.
Es könnte auch sein, der Amtsübergang ist nicht wirklich geregelt, der Präsident muss die Niederlage anerkennen. Jemand wie Donald Trump erkennt keine Niederlage an, egal wie deutlich sie ist. Da ist dann die Frage, wie bekommt man ihn aus dem Amt heraus? Das ist eine Diskussion, die in den USA momentan sehr offen geführt wird. Und wenn man sich anschaut, dass der Präsident den Heimatschutz schon jetzt in die demokratischen Städte schickt, lassen sich Überlegungen anstellen, was passiert eigentlich, wenn er die Wahl verliert? Ein Sprengstoff, der nicht nur in der Jurisprudenz (Rechtswissenschaft, Anm. d. Red.) diskutiert wird. Das sind Probleme, die bei der Persönlichkeitsstruktur von Trump durchaus in Betracht kommen.
Uwe Blass
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Dr. Volker Mittendorf ist Akademischer Rat an der Bergischen Universität Wuppertal (BUW). Er ist stellvertretender Leiter des Instituts für Demokratie und Partizipationsforschung (IDPF) an der BUW. Seine Forschungsfelder umfassen das Politische System der Bundesrepublik Deutschland, Lokale Politikforschung, Partizipation, Effekte direktdemokratischer Verfahren und Argumentationsmuster in der Wahlkampfkommunikation.