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„Jahr100Wissen“: Über die Quäkerspeisungen – 700 Millionen Portionen Essen für Bedürftige

31.03.2021|15:25 Uhr

In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftler*innen der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben. 1921 herrschten im Nachkriegsdeutschland traurige Zustände. Gelindert wurde die große Not damals durch die sogenannten Quäkerspeisungen. Im „Jahr100Wissen“-Interview erklärt der Historiker Wolfgang Heinrichs, was es damit auf sich hat und wer dahintersteckte.

apl. Prof. Dr. Wolfgang Heinrichs<br /><span class="sub_caption">Foto privat</span><br /><span class="sub_caption">Klick auf das Foto: Größere Version</span>

Durch die sogenannten Quäkerspeisungen konnte nach dem 1. Weltkrieg die größte Not gelindert werden. Woher kam die Initiative?

Heinrichs: Armen- und Schulspeisungen gab es auch schon während und vor dem Ersten Weltkrieg. Die Not der Bevölkerung rückte in Krisenzeiten in den Blickpunkt der Kommunen, aber auch der verschiedenen sozialen Verbände und der Kirche. In Folge des Krieges 1920 (übrigens eine Pandemiezeit) und durch die Ruhrkrise sowie die Hyperinflation 1923 waren die Kommunen mit diesem Problem hoffnungslos überlastet. Hier sprangen in den verschiedenen Städten Deutschlands die Quäker den Kommunen zur Seite, die zusätzlich durch die Besatzung von belgischen und französischen Truppen belastet waren. Ein besonderes Augenmerk lag auf den Kindern und Müttern. Gerade um Schulspeisungen machten sich die Quäker verdient.

Woher kommt der Name Quäker eigentlich?

Heinrichs: Der Name ist schon sehr früh entstanden. Die Quäker sind im 17. Jahrhundert durch den jungen englischen Schuhmacherlehrling George Fox entstanden. Sie haben sich selbst nicht Quäker genannt, sondern „Freunde“ oder „Sucher der Wahrheit“, im Hinblick auf Johannes 15,14f., wo Jesus zu den Jüngern sagt: „Ihr seid meine Freunde“, keine Knechte. Sie verstanden sich als die Freunde Jesu und auch als Freunde untereinander. Der Freiheits- und Gleichheitsgedanke tritt zu der Idee der Solidarität. Man hat ihnen von außen den Namen Quäker beigelegt, wahrscheinlich von to quake, also beben, weil man sagte, wenn diese Freunde ihre religiösen Erfahrungen machen, dann kommt es vor – und das ist tatsächlich so gewesen –, dass sie zittern. Sie waren dann innerlich so erregt, dass sie bebten. Also Quäker, die Zitterer – was zuerst ein Schimpfname war. Aber dann haben die Freunde, die sich heute Society of Friends nennen, den Namen Quäker auch selbst angenommen. Sie haben also den Namen positiv übernommen, denn sie sagen, wenn wir Gott begegnen, kommen wir ins Zittern. Dann haben wir eine besondere Erleuchtung, eine heilige Begegnung, und das wirkt sich auch in unseren Herzen aus.

Um welche Gemeinschaft handelt es sich dabei genau?

Heinrichs: Es ist eine im 17. Jahrhundert entstandene Gemeinschaft, entstanden in der Zeit religiöser Aufbrüche in England. In dieser Zeit wurde speziell das Individuum entdeckt. Die Bewegung steht im Kontext des Humanismus und der durch die Reformation ausgelösten Frömmigkeitsbewegungen der frühen Neuzeit. Die Quäker haben, anders als andere reformatorische Bewegungen, nicht einfach nur gesagt, wir stützen uns auf die Bibel, auf die Schriften des Neuen und Alten Testaments, sondern wir setzen auf eine Gotteserfahrung, auf die „inward illumination“ (innere Erleuchtung durch den Heiligen Geist nach Johannes 1,9) und sind als Gottesgemeinschaft, als Freunde – auch Freundinnen – zusammen, die sich gegenseitig geistlich erbauen und Lebenshilfe vermitteln.

Da kommen auch soziale Projekte und dieser Impetus her, besonders bedrängten und notleidenden Menschen zu helfen. Die Freunde und Freundinnen wollen die Menschen fördern und auch sich selbst aufbauen durch gegenseitigen Beistand und eine aktive Gottesbegegnung.

1921 herrschten im Nachkriegsdeutschland traurige Zustände. In Wuppertal lag die Textilindustrie am Boden, man sah Arbeitslosigkeit und Massenelend auf den Straßen. Die Bevölkerung hungerte, Mangelkrankheiten bei den Kindern nahmen zu. Gerhard Dabringhausen schreibt in seinem Buch über Heckinghausen, dass die größte Not damals durch die Quäkerspeisung gelindert wurde. Was wurde damals an die Bedürftigen verteilt?

Heinrichs: Sie haben vor allem Suppen verteilt, aber auch mit Fleischeinlage. Die Deutschen haben meist auf Milch gesetzt. Bei den Schulspeisungen und den Abendspeisungen, vor allem der unterernährten Schulkinder, gab es von den Kommunen Milch und die Quäker haben das gut ergänzt, indem sie Reis-, Grieß-, Bohnen-, Erbsen-, Graupen- und Haferflockensuppen an Kinder und stillende Mütter verabreichten. Zur Bohnensuppe gab es eine Fleischeinlage und die Graupensuppe wurde in der Regel mit einer Pflaumenbeilage gereicht. Jedes Kind bekam dazu ein süßes Hefebrötchen. Das hat großen Eindruck gemacht.

Bis 1925 wurden etwa 700 Millionen Portionen ausgegeben. Die Zahl der Kinder, die in Deutschland eine Speisung erhielten, wird auf bis zu fünf Millionen geschätzt. Wo kamen die enormen Spenden her?

Heinrichs: Die kamen zum größten Teil aus Mitteln des amerikanischen Wohlfahrtsvereins der „Freunde“. Auch die „Freunde“ aus den Niederlanden spendeten. Die niederländischen Quäker standen auch in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft den Bedürftigen bei. Ein prominentes Beispiel ist die Wuppertaler Bühnen- und Kostümbildnerin Hanna Jordan, selbst eine Quäkerin, die aufgrund der jüdischen Abstammung ihrer Mutter ihre Schulzeit an der Quäkerschule Eerde (1935-39) in den Niederlanden verbringen konnte.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg kamen große Spenden aus den USA. Die Quäker arbeiteten mit anderen Religionsgemeinschaften, etwa mit den Methodisten, zusammen. Das ging, weil sie keine so enge konfessionelle Führung hatten und dadurch andere Mitchristen animieren konnten, mitzuhelfen. Für die Armenspeisung trugen die Kommunen, in Wuppertal über die Vermittlung des Westdeutschen Verwaltungsausschusses, zwei Drittel der Kosten, die „Kinderhilfe der religiösen Gesellschaft der Quäker“ übernahm ein Drittel. Vor allem sorgten die Quäker dafür, dass die für die Schulspeisung vorgesehenen ca. 450 Kalorien durch Eiweiß, Fett, Mineralstoffe und Vitamine ergänzt wurden. An den Schulspeisungen, die an allen Schulen durchgeführt wurden – auch die Kinder des Mittelstandes, selbst Gymnasialkinder waren unterernährt –, nahm auch ein Arzt teil und leistete begleitend Tuberkulosefürsorge.

Die Quäkergemeinschaft besteht aus ca. 300.000 Gläubigen weltweit und rund 300 in Deutschland. Sie leben ein Leben in Einfachheit. Was bedeutet das heute, einfach zu leben?

Heinrichs: Das bedeutet, dass sie nicht das materielle, sondern das geistige Leben als das eigentliche sehen. Das bedeutet nicht, dass sie alle arm sind, aber sie können abgeben. Da sind sie ein großes Vorbild. Es geht ihnen darum – wie es in der Bibel auch heißt – Reichtum im Himmel zu verschaffen, indem man auch den Armen gibt. Und da setzen sie sich weltweit nach wie vor kolossal für ein. Die Quäker waren mit die Ersten, die gegen die Sklaverei antraten. Sie haben Sklaven in den USA über die kanadische Grenze in die Freiheit geführt, sie haben sich immer um die verdient gemacht, die entrechtet waren. Die Quäker wurden auch in Deutschland verfolgt und haben aus dieser Verfolgungssituation immer daran gedacht, anderen zu helfen.

Und dann gibt es ja auch noch diesen Staat, den sollte man nicht unerwähnt lassen: Pennsylvania. Der ist von dem Quäker William Penn gegründet und auch benannt worden. Die Hauptstadt Philadelphia heißt übersetzt Bruderliebe, Geschwisterliebe, die die ganze Menschheit mit einbezieht. Und das ist kennzeichnend für die Gemeinschaft geblieben.

Uwe Blass

Das komplette „Jahr100Wissen“-Interview lesen Sie hier.


Wolfgang Heinrichs ist außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte in der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften der Bergischen Universität unter besonderer Berücksichtigung der Kirchengeschichte. Er unterrichtet am Freien Christliche Gymnasium Düsseldorf, Geschichte und evangelische Religion. Außerdem ist er Pastor im Bund Freier evangelischer Gemeinden.

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