Universitätskommunikation – Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

Jahr100Wissen zur Anastasia-Legende: Psychologische Beratung setzt heute auf Prävention

14.02.2020|11:15 Uhr

Am 17. Februar 1920 wird eine junge Frau aus dem Berliner Landwehrkanal gerettet. Sie gibt an, die überlebende Zarentochter Anastasia Romanow zu sein. Damit beginnt der Kampf um eine Identität, der sich über 50 Jahre erstreckt, Fürsprecher*innen und Gegner*innen findet, Theater- und Filmregisseur*innen inspiriert und sich letztendlich als Lüge erweist. Dr. Britta Marfels arbeitet als Psychologin an der Bergischen Universität und ist erste Ansprechpartnerin für Beschäftigte, die sich in belastenden Arbeits- und Lebenssituationen befinden. Im Jahr100Wissen-Interview berichtet sie u. a. über die Schwerpunkt ihrer Arbeit.

Britta Marfels<br /><span class="sub_caption">Foto UniService Transfer</span><br /><span class="sub_caption">Klick auf das Foto: Größere Version</span>

Anna Anderson, wie sich die angebliche Zarentochter nennt, ist sicher ein Extrembeispiel einer psychischen Störung. Mit welchen Erkrankungen haben Sie in Ihrer täglichen Arbeit zu tun?

Marfels: Bei der psychologischen Beratung, die ich für die Beschäftigten der Universität anbiete, steht der Gedanke der Prävention im Vordergrund. Es geht also – im Unterschied zu einer Psychotherapie – nicht um Diagnose und Behandlung einer psychischen Erkrankung, sondern darum, möglichst früh zu unterstützen, damit jemand gar nicht erst krank wird.

Wenn ich im Laufe eines Gesprächs den Eindruck gewinnen sollte, dass jemand z. B. an einer Depression oder einer anderen psychischen Erkrankung leidet, würde ich dem Betroffenen empfehlen, sich in Behandlung zu begeben. Das bedeutet nicht, dass derjenige nicht mehr zu mir in die Beratung kommen kann, sondern nur, dass ich keine Behandlung der Erkrankung übernehmen kann. Bei einem Fall wie Anna Anderson würde ich vermuten, dass eine ärztlich-psychiatrische Behandlung notwendig gewesen wäre.

Die Gründe, warum jemand in meine Beratung kommt, bei der im Übrigen alles vertraulich behandelt wird, sind sehr vielfältig. Sie stehen nicht immer unmittelbar mit der Arbeit in Zusammenhang, können sich aber auf diese auswirken. Wenn die Ehe bzw. Partnerschaft zerbricht, ein Familienmitglied schwer erkrankt oder stirbt, lässt man das nicht an der Haustüre zurück. Die Arbeit kann dabei helfen, langsam zur Normalität zurückzukehren, aber sie kann auch als zusätzliche Belastung erlebt werden, weil vielleicht die Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist.

Es gibt viele Gründe, um in meine Beratung zu kommen: Die junge Doktorandin, die für die neue Stelle umziehen musste, sich einsam fühlt und mit ihrem Doktorvater nicht zurechtkommt; der Professor, dem Konkurrenz- und Konfliktsituationen mit Kollegen zu schaffen machen; Vorgesetzte, die sich Sorgen um einen psychisch erkrankten Mitarbeiter machen oder die sich über Konflikte in ihrem Team austauschen möchten. Die Mitarbeiterin, die sich ungerecht behandelt fühlt und nicht mehr wertgeschätzt.

Manchmal genügt schon ein Gespräch, damit Betroffene sich wieder gestärkt und handlungsfähig fühlen. Denn Konfliktsituationen, die mit starkem Handlungsdruck einhergehen, können verunsichern und dazu führen, dass man den eigenen Gefühlen und der Wahrnehmung nicht mehr traut.

Wie läuft eine solche Beratung bei Ihnen ab?

Marfels: Je nach Bedarf erkläre ich in der Beratung erst einmal, welche psychischen und physischen Prozesse in stark belastenden Situationen angestoßen werden, damit der Betroffene unangenehme Stressreaktionen nachvollziehen und besser steuern kann. Denn in einer akuten Stresslage wird der Körper durch die Ausschüttung von Hormonen und Botenstoffen im Gehirn aktiviert, um eine möglicherweise lebensbedrohliche oder als schädigend bewertete Situation zu bewältigen. Dieser evolutionsbiologische Überlebensvorteil trägt dazu bei, dass Lebewesen für Flucht oder Angriff gut gerüstet sind. In unserer heutigen Lebenswelt geht es aber häufig nicht um eine akute Lebensbedrohung, sondern um Probleme, bei denen andere Strategien und Bewältigungsmechanismen gefragt sind. Ein anhaltender Stresszustand kann durch die permanente Bereitstellung von Energie vielfältige körperliche und psychische Erkrankungen nach sich ziehen. Daher suche ich in der Beratung gemeinsam mit den Betroffenen nach Lösungen, damit Körper, Gedanken und Gefühle wieder zur Ruhe kommen.

Bei meinen Aufgaben geht es aber auch um organisationale Prozesse, da die Universität als Arbeitgeber verpflichtet ist, psychische Auswirkungen der Arbeit auf die Beschäftigten zu erfassen und zu beurteilen. Eine gesundheitsförderliche Gestaltung der Arbeitsbedingungen und Faktoren, die belasten und krankmachen können, möglichst gering zu halten oder zu vermeiden, stehen hier im Mittelpunkt. Es ist beispielsweise empirisch belegt, dass eine hohe Arbeitsintensität, die mit einem geringen Handlungsspielraum und niedriger sozialer Unterstützung einhergeht, ein Risikofaktor für psychische und kardiovaskuläre Erkrankungen sein kann. Dagegen tragen Anerkennung und Wertschätzung durch Vorgesetzte und ein gutes soziales Klima am Arbeitsplatz zum gesundheitlichen Wohlbefinden bei.

Wie reagiert die Gesellschaft Ihrer Erfahrung nach auf Menschen, die sich in Lebenskrisen befinden?

Marfels: Aus psychologischer Perspektive würde ich sagen, dass Menschen grundsätzlich mitfühlende Wesen sind und Verständnis für das Leid anderer haben. Besonders, wenn es um Dinge geht, die man selbst gut nachvollziehen kann, wie z. B. die Erkrankung eines Angehörigen, eine Scheidung oder Trennung. Auch Burnout, Depressionen und andere psychische Erkrankungen sind zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung keine Tabuthemen mehr. Gleichzeitig leben wir aber in einer Leistungsgesellschaft, in der implizit und explizit viele Erwartungen an den einzelnen Menschen gestellt werden. Es kann also sein, dass der Betroffene spürt, dass man von ihm erwartet, schnell wieder zur Normalität zurückzukehren. Verständnis und Rücksichtnahme von außen nehmen ab und man fühlt sich mit seinem Leid alleingelassen. Insbesondere im Arbeitskontext kann dies zu Problemen führen.

Im Falle der Anna Anderson legen Mediziner*innen eine psychische Erkrankung nahe. Sie schaffte es, bis zu ihrem Tod an dieser Legende festzuhalten, und erst eine DNA-Analyse in den 90er Jahren konnte sie als Zarentochter ausschließen. Sie sprachen von den Lösungen für Betroffene. Welche Möglichkeiten gibt es heute, um bei Ratsuchenden Körper und Seele wieder in Einklang zu bringen?

Marfels: Es gibt verschiedene Ebenen, an denen man ansetzen kann und die sich wechselseitig beeinflussen: die körperliche, die emotional-kognitive und die Verhaltensebene. In einer stark belastenden Situation ist es wichtig, die Stressreaktionen des Körpers wieder zu beruhigen, z. B. durch Sport oder durch ein Entspannungsverfahren. Wenn sich der Körper wieder entspannen kann, hat das einen Einfluss auf die Vorgänge im Gehirn und somit auf die Gefühle und Gedanken. Denn wenn man nicht mehr abschalten kann, nachts nicht zur Ruhe kommt und ständig grübelt, ist man irgendwann erschöpft.

Es ist auch hilfreich, herauszufinden, wie man eine Situation wahrnimmt und bewertet und sich bewusst darüber zu werden, welche Gedanken zu welchen Gefühlen führen und umgekehrt. Wenn man sehr wütend und verletzt ist oder große Angst hat, resultieren daraus Gedanken, die den emotionalen Zustand verstärken und dieser wiederum verstärkt dann negative Gedanken oder die Angst.

Jeder Mensch hat im Laufe seines Lebens bestimmte Bewältigungsstile und Handlungsmuster erlernt, die z. B. in Stress-Situationen fast wie ein Automatismus wirken. Auch hier kann man ansetzen. In der Beratung können diese Prozesse reflektiert werden.

Uwe Blass


Dr. Britta Marfels arbeitet im Dezernat 5 der Bergischen Universität. Sie ist Ansprechpartnerin für Mitarbeiter*innen, wenn es um psychische Belastungen und besondere Gefährdungssituationen wie übergriffiges Verhalten oder Mobbing geht.

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