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Picassos künstlerische Antwort auf den Zweiten Weltkrieg -Eine Bergische Transfergeschichte mit Prof. Tatjana Tönsmeyer

12.02.2020|09:21 Uhr

Am 15. Februar wird in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf die Ausstellung „Pablo Picasso. Kriegsjahre 1939 bis 1945“ eröffnet. Das historische Begleitseminar zur Ausstellung wurde am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Bergischen Universität Wuppertal unter der Leitung von Prof. Dr. Tatjana Tönsmeyer entwickelt.

Prof. Dr. Tatjana Tönsmeyer

2020 eröffnen in Berlin und Düsseldorf zwei international beachtete Ausstellungen über Pablo Picasso ihre Tore. „Pablo Picasso. Kriegsjahre 1939 bis 1945“ lautet der Düsseldorfer Titel einer außergewöhnlichen Präsentation in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen „K20“. In Kooperation mit dem Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Bergischen Universität, unter der Leitung von Professor Dr. Tatjana Tönsmeyer, entstand eine seltene und ungewöhnliche Annäherung an das Werk des spanischen Genies.

Die Kuratorin der Kunstsammlung NRW, Kathrin Beßen und die Mitarbeiterin der Abteilung Bildung der Kunstsammlung NRW, Angela Wenzel, wandten sich gezielt an die Wuppertaler Wissenschaftlerin, da sie „Hinweise zum Verständnis von Picasso jenseits der klassischen Kunstgeschichte gesucht haben“, erklärt Tönsmeyer. „Picasso gilt als Genius. Er hat großartige Kunstwerke geschaffen. Aber dass er durchaus auch auf seinen Alltag reagiert hat, dass er ihn reflektiert hat, dass er eben nicht nur die beste künstlerische Lösung gesucht hat, sondern auch in die Zeitläufe eingebunden war, das ist dem Publikum vielleicht nicht so sehr bewusst. Auf diese Situation wollten die beiden Kuratorinnen reagieren.“

Dass die Ausstellungsmacherinnen sich an den Wuppertaler Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte gewandt haben, war also kein Zufall. Tönsmeyer forscht seit Jahren zu Besatzungserfahrungen in den Jahren des Zweiten Weltkriegs in europäischer Perspektive. „Wir bereiten gerade eine große Quellenedition vor. Das sind 600 Quellen, die auf Englisch erscheinen werden, die Erfahrungen von Mangel und Hunger im gesamtbesetzten Europa dokumentieren“, erläutert die Wissenschaftlerin, denn „es ist gerade in der Bundesrepublik vielen Menschen gar nicht so recht bewusst, was Besatzung für unsere Nachbarn bedeutet hat.“

Hunger: Das ist die Welt, in der Picasso lebte

Hunger prägte in den Kriegsjahren den Alltag fast überall im besetzten Europa, nicht nur in Frankreich, wo Hungertote selten waren, sondern in hohem Maße auch in der Sowjetunion. In Städten wie Kiev oder Charkiv starben mehr Menschen am Hunger als an Kampfhandlungen, sagt die Wissenschaftlerin. Aber auch Griechenland zählte viele Hungertote – Menschen starben zum Teil mitten auf der Straße. Selbst in den Niederlanden verloren im Winter 1944/45 fast 22.000 Menschen ihr Leben durch Unterernährung. Die bei unserem westlichen Nachbarn stationierten deutschen Soldaten jedoch berichteten zu Hause von ihrem „Leben wie Gott in Frankreich“. Damit blendeten sie die Hungersituation, entstanden nicht zuletzt durch die deutsche Ausbeutung, komplett aus. „Schon im Herbst/Winter 1940/41“, weiß die Forscherin, „warnte der Präfekt von Paris vor dem Verzehr von gekochtem Katzenfleisch – weil dadurch Krankheiten übertragen werden können.“

Und da kommt wieder Picasso ins Spiel. Seit 1936 arbeitete er in Paris in einem Atelier in der 7 Rue des Grands-Augustins, in dem „Guernica“ (eines der bekanntesten Gemälde Picassos, Anm. d. Red.) entstand und das er seit dem Frühjahr 1939 zudem als Wohnung nutzte. Dort blieb er, von seinem Aufenthalt in Royan bei Bourdeaux 1939/40 abgesehen, bis zur Befreiung von Paris im August 1944. Seine in dieser Zeit entstandenen Werke spiegeln so auch die Welt, in der er lebte.

„La fenêtre“ – eine künstlerische Antwort auf den Krieg

Langsam nähert sich das Lehrstuhlteam der Aufgabe, ein historisches Begleitprogramm zur Ausstellung vorzubereiten. Dazu sichten die Beteiligten zunächst Fotos der in der Ausstellung präsentierten Werke eines Künstlers, den Tönsmeyer mit den Worten zitiert, er habe den Krieg nicht direkt gemalt, aber der Krieg habe sicherlich Einfluss auf seine Bilder genommen und die Zusammenhänge herauszuarbeiten, das überlasse er künftigen Generationen von Historikern.

Diese Aufgabe erklärt die Wuppertaler Historikerin einleuchtend an Picassos Bild „La fenêtre“. „,La fenêtre', das Fenster, aus dem Jahre 1943: Es zeigt ein Dachgeschoss mit offenem Fenster, durch das man nach draußen schaut. Man sieht andere Dächer und es macht von der Farbigkeit klar den Eindruck, dass es ein Sommerbild ist. Dennoch nimmt ein Heizkörper samt seinen Zuleitungen fast ein Viertel des Bildes ein. Als Historikerin frage ich mich dann: Warum malte Picasso einen Heizkörper?“ Und damit beginnt das Nachdenken und das Einbringen wissenschaftlicher Erkenntnisse aus ihrer Forschungsarbeit: „Der Mangel, von dem ich sprach, betraf nicht nur Lebensmittel. Der betraf auch Medikamente, Wohnungen, er betraf Wasser, Elektrizität und Heizung“, erklärt sie.

„Wir wissen außerdem, dass der Winter 1940/41 besonders streng war, dass fast zwei Monate lang das Thermometer Temperaturen deutlich unter dem Gefrierpunkt anzeigte. Die Schriftstellerin Irène Némirovsky schreibt, dass alte Menschen und Kinder das Bett über Wochen nicht verlassen hätten, weil es der einzige Ort war, wo man nicht gefroren habe.“ Bei dieser Betrachtung bekommt das Bild eine andere Dimension. Das scheinbar banale Motiv der Heizung gibt zeitgeschichtlich betrachtet eine künstlerische Antwort auf den Krieg. Dazu Tönsmeyer: „Wenn Picasso sagt, der Krieg habe sicherlich Einfluss auf seine Bilder genommen, dann würde ich hier so etwas erkennen.“

Wuppertaler Studierende übernehmen Führungen

Das historische Begleitprogramm, für das die Wissenschaftlerin verantwortlich ist, ergänzt die klassisch-kunsthistorischen Führungen um vier historische Führungen, die von Studierenden und Promovierenden des Lehrstuhls übernommen werden. „Das sind alles junge Menschen, die an meinen Lehrstuhl angebunden sind und die explizit auf diese historische Dimension eingehen. Sie machen Führungen, in denen sie davon berichten, wie die Zeitkontexte sind, und was man in den Bildern noch sehen kann.“ Zudem organisierte die Kunstsammlung im Vorfeld der Ausstellung ein sogenanntes Fokusgespräch, zu dem die Studierenden auch eingeladen waren. „Die beiden Kuratorinnen haben eine kleine Gruppe von Menschen – sowohl solche, die mit Kunst etwas zu tun haben, als auch solche, bei denen das weniger der Fall ist – zu einem Gespräch gebeten und mit ihnen erarbeitet, was für Zugänge es eigentlich zu Picasso gibt. Das ist noch einmal ein anderer Zugang zur Thematik, der uns aus unserem wissenschaftlichen Alltag weniger vertraut ist. Zu sehen, wie das große Ausstellungshäuser machen, ist daher eine inspirierende Erfahrung und Bereicherung.“

Darüber hinaus hat Tönsmeyer mehrere Katalogbeiträge verfasst und eine Lesung mit einer professionellen Schauspielerin organisiert, die Quellentexte unterschiedlichster Art vortragen wird. „Weil die Versorgungsmängel in Bezug auf Frankreich und Paris – aber auch grundsätzlich auf das besetzte Europa – in einer deutschen Öffentlichkeit doch wenig bekannt sind“, sagt sie, „haben wir einen Satz Quellen ausgewählt und die Berliner Schauspielerin Anette Daugardt gewonnen. Sie liest rund 15 Quellen. Und das ist deswegen spannend, weil sie in hervorragender Weise in der Lage ist, jeder Quelle eine andere Stimme zu geben. Dabei sind Tagebucheinträge, aber auch Kochrezepte – Was kocht man, wenn es nichts mehr gibt? – und zum Teil völlig abstruse, deutsche Besatzungsdokumente in Form von Marktordnungen. In schier endlos langen Listen wird geschildert, was man alles nicht verkaufen darf und welche gravierenden Strafen darauf stehen. Und dann steht da als letzter Satz: Alles andere ist frei verkäuflich.“ In diesen Dokumenten werden durch den Vortrag für Tönsmeyer sowohl die Besatzer als auch die Besetzten erlebbar. Das Museumspublikum hört so wissenschaftlich zusammengestelltes Material in einer künstlerischen Präsentation.

Zur Vorbereitung ein Roman aus der Zeit

Den Reiz dieser Kooperation sieht Tönsmeyer vor allem in der Interdisziplinarität. „Kunsthistoriker*innen und Historiker*innen fangen an, über die Bilder miteinander zu sprechen und zu berichten, was sie darin sehen und was sie aus ihren jeweiligen Zusammenhängen erkennen können. Fragen verändern sich, wenn man an Wissen und Zugängen des benachbarten Fachs partizipieren kann.“

Die Arbeit der Wissenschaftlerin ist getan, die Ausstellung „Pablo Picasso. Kriegsjahre 1939 bis 1945“ läuft ab dem 15. Februar in Düsseldorf. „Ganz persönlich“, sagt sie zum Schluss, „finde ich es sehr spannend, wieviel Geschichte in den Bildern steckt, wieviel Zeitkontext. Ich glaube, wenn man Zeit und Lust hat, dann würde ich dazu raten, einen Roman aus der Zeit zu lesen. Vorschlagen würde ich Irène Némirovsky, eine aus der Ukraine stammende Jüdin, die als Kind mit ihren Eltern nach Frankreich gekommen ist und als junge Frau Schriftstellerin wurde. Sie hat den Krieg nicht überlebt, sondern wurden 1942 in Auschwitz ermordet. Sie hinterlässt mit ,Suite francaise' einen Roman über die große Flucht im Sommer 1940 und sie beschreibt darin auch das Leben in der Provinz.“ Picasso zeige zwar die Hauptstadt, „aber Némirovsky zeigt die Besatzung. Dieses Miteinander von Besatzern und Besetzten, was man in Picassos Bildern nicht sieht. Ich glaube, das gibt einem noch einmal ein Gefühl für die Zeit.“

Uwe Blass


Tatjana Tönsmeyer studierte Geschichte, Osteuropäischen Geschichte, Politikwissenschaften und Publizistik/Medienwissenschaften an den Universitäten Bochum und Marburg und promovierte 2003 an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo sie bis 2011 als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war. Sie habilitierte sich in an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und leitet seit 2011 den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Bergischen Universität.

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